Mit schmerzverzerrtem Gesicht saß Sibille dienstagnachmittags beim Doktor. Seit sie ein kleines Kind gewesen war und die ersten Untersuchungen beim Zahnarzt über sich ergehen lassen musste, kam sie zu Herrn Grünsteidl, einem kompetenten Arzt, wie Sibille findet. Noch nie hatte er sie übers Ohr zu hauen versucht: Zumindest war sie ihm noch nie drauf gekommen. Diesmal schmerzte der Fünfer, der Backenzahn rechts oben. Er erzeugte einen stechenden Schmerz, der sich in Wellenbewegungen in ihrem Kopf breit machte. Immer wieder flammte das Stechen auf, um kurze Zeit später völlig abzuebben und wieder zu verschwinden. Seit einem Tag quälte er Sibille nun schon. An Schlafen war in der vergangenen Nacht nicht zu denken, ständig erwachte sie. Dementsprechend müde und unausgeschlafen ging sie heute Mittag auch aus dem Haus. Tief hingen die Augenringe und rot war das Auge. Sibille hatte, ihre unpässliche Situation noch verstärkend, eine starke Birkenallergie, die sie ständig niesen und ihre Nase laufen ließ. Heuer war eine starke Birkenblüte angesagt worden und auch eingetreten. Der milde Winter und die vielen zur gleichen Zeit blühenden Pflanzen, verstärkten den Effekt für sie als Allergikerin zusätzlich.
Im Warteraum Grünsteidls herrschte ein reges Kommen und Gehen. Die Tür war keine zwei Minuten geschlossen, flog sie auch schon wieder auf und ein neuer Patient betrat den ohnedies überfüllten Raum. „Wie demütigend doch so ein Wartezimmer ist.“, dachte Sibille und schämte sich für ihr Befinden. Verstohlenen Blickes musterte sie alle Wartenden und versuchte sich damit abzulenken, dass sie sich zu jedem der Anwesenden eine Geschichte einfallen ließ. Dies klappte auch ganz gut bis ihr Blick auf einen jungen Mann fiel: Er saß aufrecht auf einem ungemütlichen Sessel und las eine Fachzeitschrift. Sibille erkannte erst nicht um welche Art von Zeitschrift es sich handelte, redete sich aber schnell ein, dass er sicherlich eine Autozeitung in Händen hielt. Er war gut gekleidet und schien, im Gegensatz zu ihr, keine Schmerzen zu haben. Da sie diesem Herrn direkt gegenüber saß und sie ihn auch zu einem gewissen Grad sympathisch fand, verstärkte sich Sibilles Unwohlsein. Sie versuchte ihre laufende Nase und das Niesen so gut wie möglich zu unterdrücken und widmete dem Mann ihre volle Aufmerksamkeit. Trotzdem wollte ihr zu ihm keine passende Geschichte einfallen. Schließlich wandte sie ihren Blick von ihm ab und versuchte mit den weiteren Patienten ihr Spiel fortzusetzen. Jedoch kam sie mit ihren Blicken wieder und wieder auf jenen Herrn ihr gegenüber zurück und rätselte welche Geschichte sich wohl hinter ihm verbarg. Irgendwie fand sie, dass dieser Mann nicht in das Wartezimmer des Doktors passte: Schon sein Aufzug wirkte eher als ob er etwas verkaufen würde. Die anderen Menschen schienen ihn jedoch gar nicht wahrzunehmen und störten sich auch nicht an ihm. Schwarz war sein modisches Sakko. Ein weißes Stecktuch ragte keck aus der linken Brusttasche und verlieh dem sonst so dunklen Gewand einen hellen Klecks. Fast neckisch wirkte dieses kleine helle Tüchlein, als ob es mit seiner gar so anderen Farbgebung eine Auflockerung des düsteren Schwarz versuchte. Unter dem Sakko kam eine filigrane Silberkette zum Vorschein, die unter der Knopfreihe der Jacke verschwand und in einem Bogen über dem steingrauen Gilet hing, welches über das weiße Hemd geknöpft war. Auf einmal merkte Sibille, dass auch diese Art der Ablenkung ziemlich gut wirkte. Sie hatte sich so in den Details der Garderobe des Mannes verloren, dass ihr Schmerz für diese Zeit nicht präsent war. Immer noch las der Unbekannte konzentriert in der Zeitschrift. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas von Strenge und Verärgerung. Auf der Stirn des Mannes konnte man seine Anspannung regelrecht sehen. Es zeichneten sich tiefe Falten ab, die sich, blätterte er um, wie von unsichtbarer Hand glätteten. Fing er wieder zu lesen an, durchpflügten sie schon wieder seine Stirn.
„Frau Wagner! Zimmer drei ist für sie bereit!“, hörte sie dumpf die Stimme der Sprechstundenhilfe. Die Anlage krächzte als die Durchsage wiederholt wurde. Verdutzt stand sie abrupt auf, um zu erwähnter Tür mit der schwarzen Drei zu gehen. Als sie ins Zimmer trat, kamen die Schmerzen wieder zurück. Etwas verloren saß sie nun auf dem Behandlungsstuhl und dachte noch immer an jenen Mann im Wartezimmer. Er ließ ihr keine Ruhe. Erst Herr Grünsteidl ließ Sibille den Unbekannten vergessen. Er erkundigte sich nach Sibilles Problem und fing auch rasch mit der Behandlung an. Nach einer dreiviertel Stunde wurde Sibille vom Doktor entlassen. Vollgepumpt mit Schmerzmitteln, die ihr in Spritzenform injiziert worden waren, verließ sie den Behandlungsraum drei. Sofort fiel ihr der nun leere Sessel auf, auf dem vorhin noch der unbekannte Mann saß: Weg war er nun. Etwas traurig ging sie zum Schalter, holte sich ihr Rezept ab und verließ die Ordination.
Die Frühlingssonne stand schon flach über den Häusern und blendete ihre Augen. Fest kniff Sibille ihre Augen zusammen, um irgendetwas zu erahnen und sicheren Fußes zur Busstation zu gelangen. Sie musste auch nicht lange auf den Bus, der sie fast bis vor ihre Haustüre brachte, warten. Für den kurzen Weg zu ihrem Haus nahm sie, immer wenn sie Zeit hatte, einen kleinen Umweg in Kauf. Dieser führte sie durch einen kleinen Park, mit vielen Bäumen und Sträuchern. Verwinkelte Wege führten durch die Parkanlage und versteckte Sitzgruppen fanden sich überall zwischen den Pflanzen. Sibille liebte ihren Garten, wie sie den Park gern nannte, auch deswegen. Oftmals saß sie in einem der zahlreichen Winkel, las ungestört ein Buch oder genoss einfach die Sonne. Dieses Frühjahr war sie jedoch wegen ihrer Allergie nicht oft im Park gewesen, denn hier standen ihre blühenden Feinde. Heute aber, vielleicht wegen der Schmerzmittel Gründsteidls, konnte sie den Park etwas genießen.
Der Wind ging leicht und blies die warme Luft sanft durch Sibilles Garten. Einige Sorgen der letzten Tage und Wochen schienen wie weggeblasen. Sie schlenderte über einen Weg, von dem sie wusste, dass er sie in den letzten Winkel des Parks führte. Dort wollte sie ein paar Minuten verweilen und die Stille auf sich wirken lassen. Kein Mensch war an diesem Platz. Sibille steuerte eine Bank mit Tisch an und ließ sich auf die Sitzgelegenheit sinken. Ein Stöhnen der Entspannung ging mit dem Hinsetzen einher.
Als Sibille ihre Augen öffnete, zuckte sie zusammen. Schräg gegenüber saß, auf einer etwas versteckten Bank, jener Herr vom Wartezimmer. Diesmal las er nichts. Er schaute direkt in die Richtung in der Sibille saß. Ein Schauder überkam die junge Frau. Ihr Mund wurde trocken und ihre Hände zitterten, als er aufstand und auf sie zuging. „Hallo Frau Wagner.“, sagte der Unbekannte, als er bei ihr angekommen war. Seine Stimme war tief und angenehm. „Eine perfekte Stimme zum Vorlesen.“, dachte Sibille. Der Mann hatte schmale Lippen, die seine Zähne umrahmten und leicht geschwungen ein Lächeln andeuteten. Sein Gesicht war nun viel freundlicher als in der Ordination. Auch die Stirn schien sich entspannt zu haben, denn keine einzige Vertiefung war dort auszumachen. Erstmals blickte Sibille in die grauen Augen des Mannes und bemerkte, dass sie noch nicht einmal etwas erwidert hatte. Blitzschnell, wie diese Erkenntnis in ihr aufblitzte, schoss nun das Blut in ihre Wangen und ihr wurde heiß. Am liebsten wäre sie in diesem Augenblick davongelaufen. Wie ein verliebter Teenager hatte sie ihn mit offenem Mund angestarrt und nichts gesagt. Als sie wieder zu sich kam, hatte er bereits mit einem Lächeln Platz genommen. Sibille erwiderte seinen Gruß und fragte was er denn hier täte. „Ich komme des Öfteren hierher. Das ist ein guter Platz zum Entspannen und Philosophieren.“, erklärte der Fremde. „Dann haben wir ja was gemeinsam!“, freute sich Sibille. So saßen die beiden noch einige Zeit bis Sibilles Schmerzmittel ihre Wirkung verloren hatten und sie sich unwohl fühlte. Also beschlossen sie sich in den nächsten Tagen wiederzutreffen und gingen beide ihrer Wege.
Erst zuhause fiel es Sibille wie Schuppen von den Augen: Sie wusste nichts von dem Unbekannten. Er hatte sich zwar als Patrick vorgestellt, aber ansonsten hatten sich die Gespräche nur um sie gedreht. In den kommenden Tagen ließ Sibilles Zahnschmerz nach und sie fühlte sich sichtlich besser. Auch die schlimmste Zeit der Allergie schien vorüber zu sein. Sibille freute sich auf das Treffen mit Patrick. Ihre Gefühle konnte sie jedoch nicht richtig einordnen. Einerseits hatte sie ein beängstigendes Gefühl, da er so viel von ihr wusste und sie nichts von ihm. Andererseits freute sie sich auf das Wiedersehen und hatte regelrecht Schmetterlinge im Bauch, wenn sie an den gut gekleideten Patrick dachte. Sie wollte diese beängstigenden Gefühle aus der Welt schaffen und beim nächsten Treffen alles nachholen, was sie im ersten Gespräch verabsäumt glaubte. Doch aus ihrem Vorsatz wurde nichts. Es ging beim Rendezvous schließlich und endlich wieder vorrangig um sie, was sehr schmeichelnd war, aber das Gefühl der Angst vor dem Unbekannten nicht übertönen konnte. So ging es einige Wochen dahin. Die beiden trafen sich regelmäßig. Auch Sibilles Angst wurde mit einigen wenigen Details aus Patricks Leben ruhiggestellt. Er arbeitete als Berater einer internationalen Firma und war des Öfteren auf kurzen Reisen. Patrick hatte keine Familie mehr, nur der geliebte Großvater lebte noch. Diesen hatte er aber schon lang Zeit nicht mehr gesehen.
Nach einigen Wochen, in denen Sibille Bekanntschaft mit dem damals Unbekannten gemacht hatte, die Allergie und auch die Zahnschmerzen der Vergangenheit angehörten, war Sibille glücklich. Sie fühlte sich so beschwingt und federleicht. Patrick ließ sie schweben. Eines Tages trafen sich die Beiden zum Spazieren im Park. Jener Park, in dem sie sich kennenlernten. Sie schlurften Hand in Hand die Wege entlang, blieben ab und an stehen, um sich zu küssen oder herumzutollen. Alles war perfekt. Sie kamen an einem Rhododendronstrauch zum Stehen, worauf Patrick etwas zu herumdrucksen anfing. Er wollte ihr etwas sagen, konnte aber nicht. Seine Stirn verkrampfte sich, zeigte die angestrengten Falten. Der sonst so nette Gesichtsausdruck verschwand und wurde ernst. Die für Sibille so schönen grauen Augen, gaben eiskalte blitzende Blicke von sich. Sibille wurde nervös und wusste nicht was nun geschah. Ihre Hände fingen zu schwitzen an, waren aber eiskalt. Schauder liefen ihr über den Rücken und ebbten mit einem Frösteln ab. Sie fühlte sich unsicher. Was geschah hier? Hätte sie sich doch mehr über Patrick herausfinden sollen? War sie naiv? All diese Fragen machten sie verrückt.
Er stand vor ihr, baute sich in seiner vollen Größe auf und fing mit einer tiefen, grollenden Stimme zu sprechen an. Sibille fing an zu weinen. Sie wusste nicht warum, aber diese Veränderungen an Patrick und diese bedrohliche Stimmung brachten sie dazu. Immer wieder lief ihr eine Träne über die weiche Wange. Salz blieb auf ihrem Gesicht zurück. Wie auf ein Zeichen hin, verfinsterte sich der Himmel. Der Wind fing an stärker zu werden und die Vögel flüchteten in ihre Nester. Keine Menschenseele war mehr in der Nähe. Patricks Aussehen veränderte sich. Er wirkte immer dunkler und begann immer düsterer zu werden. Dann ließ er seine Maske fallen. „Die Reihe kommt nun an dich!“, sprach er, fasste ihr mit eiskalter Hand an die Schulter und führte Sibille in die Unterwelt.
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