Unbekannte Pfade

„1,2,3,4,5, Scheiße! Nicht schon wieder!“ denkt er sich mittlerweile ganz ernüchtert. Ein weiteres Mal dreht er sich um, macht einige Schritte retour und versucht es erneut. „1,2,3,4,5,6.“ Endlich geht’s weiter. „1,2,3,4.“ Diesmal klappt es auf Anhieb – er lächelt, kann seinen persönlichen Erfolg aber nur kurz genießen. Der nächste Flecken Asphalt verlangt nach seiner Aufmerksamkeit. Er macht den nächsten Schritt und zählt im Kopf jeden Weiteren konzentriert mit.

Den meisten Passenten fällt gar nicht auf, was Heinrich dermaßen herumtreibt, dass er oftmals aucheine Stunde auf ein und derselben Straße, sei sie auch noch so kurz, auf und ab geht. Die Gehsteige der Stadt sind für ihn mit unüberwindbaren Hürden gepflastert. Denn aus Gründen der Sparsamkeit werden ausbesserungswürdige Stellen im Asphalt herausgeschnitten und kleinflächig repariert. Diese Arbeit hinterlässt Nähte auf der Oberfläche des Gehsteiges zurück, die Heinrich zur Verzweiflung bringen. Immerzu starrt er während des Gehens vor sich auf den Untergrund und zähltseine Schritte. Heinrich fängt erst dann mit Schritt Nummer 1 an, wenn er das vorherige Feld, wischen den Asphaltnähten, mit einer geraden Schrittzahl absolviert hat. Steht am Ende des Feldes eine Ungerade, ist an kein Weiterkommen zu denken.

Dieser Umstand ist schwer genug, wird durch Heinrichs Arbeit nicht wirklich leichter – er ist Briefträger und daher fast ausschließlich auf Gehsteigen unterwegs. Gerade befindet er sich auf einer Seltenheit. Heinrich ist mit seiner leisen Mitzählerei bereits bei 32 Schritten und kein Ende in Sicht. Diese Stelle muss er sich unbedingt merken, das war noch nie da. So eine lange Strecke und kein Hindernis, Heinrich ist verzückt. Er lächelt. Doch bei Schritt Nummer 45 schwenkt seine Begeisterung in Angst, dieses lange Stück Asphalt nicht mit einer geraden Zahl abzuschließen und in der riesigen Fläche für geraume Zeit festzuhängen. „Konzentriere dich Heinerl! Fehler können wir hier keinen brauchen!“ fordert er sich mit ernster Miene selbst auf.

Das Postwagerl, wo er die Briefe und das Kuvert für die Empfänger heraus nimmt, hat er bereits im Postamt verstaut. Nun ist er am Weg in seine neue Wohnung. Erst kürzlich war er hier eingezogen –die Umgebung der alten Wohnung wurde mehr und mehr ungehbar. Überall nur Asphaltstücke, die auch mit der größten List nicht richtig bewältigbar waren. Heinrich hatte alles versucht. Kurzes Getapse, oder so große Schritte, dass es schon eher Sprünge waren. Immer wieder eine verdammte ungerade Zahl und er musste zurück an den Start. Hatte er für eine Passage die richtige Schrittfolge herausgefunden, wurde auch schon wieder der Bagger angeworfen um ein Stück Asphalt aufzureißen und für Heinrich eine neue Herausforderung zu kreieren. Der Baustellenlärm war ihm egal gewesen, die über Nacht sich verändernden Asphaltflecken machten ihn irre. Heinrich liebt Beständigkeit. Er kennt sich gerne aus, muss wissen wo er sich wie bewegen kann. Darum war die Entscheidung über eine neue Wohnung gar nicht leicht.

Wochenlang war er in der Umgebung zu Verkauf stehender Immobilien unterwegs, um sie auf ihre Gehbarkeit zu testen. Und dann war auf einmal eine dabei, wo die Asphaltsituation Heinrich zufrieden stimmte. Der Weg zum Postamt war relativ leicht zu meistern. Nur ein tückisches Stückchen verlangte etwas mehr Aufmerksamkeit von Heinrich. Es war ein Asphaltstück in dem sich Inseln befanden. Diese mussten in gewissen Abständen umschifft werden, sodass die Schrittzahl am Ende passen würde.

Dieses Stück hatte er am Heimweg gerade hinter sich gebracht, als vor ihm ein physisches Hindernis auftauchte. Ein Straßenfest versperrte ihm den Durchgang auf bekannten Pfaden. Mit mulmigem Gefühl ging Heinrich also gezwungener Maßen einen Umweg, den er bis Dato noch nie gegangen war. Hier ist er jetzt mit seiner Angst, das große Hindernis nicht zu bewältigen. Bei Schritt Nummer 67 ist abrupt Schluss. Heinrich ist ernüchtert und kehrt um. „1,2,3, …“

Grenzüberschreitung

Schweren Kopfes wacht Sebastian auf. Der Blick ist verschwommen, die Umgebung wird von den müden Augen trüb dargestellt. Langsam schiebt sich die morgendliche Sonne über die Gebäude der Stadt und legt sanft einige Strahlen auf das erwachende Gesicht von Sebastian. Auch die Parkbank unter den alten Bäumen, wird von diesem einzigartigen Licht angestrahlt. Langsam wachen mit ihm auch die Straßen in der Umgebung auf. Der Autoverkehr übernimmt mehr und mehr die Kontrolle über die Geräuschkulisse. Gestern war ein schwerer Tag.

Traurig blickt Sebastian auf das Gebäude der Universität. Einst war er hier ein- und ausgegangen. Er träumte, wie so viele seiner Generation, von einem sicheren Beruf, von Wohlstand. Außerdem strebte er nach Anerkennung. Nach Anerkennung seiner Eltern und all jenen, die nie das gesehen hatten, was in ihm schlummerte. Sebastian betrachtet jede einzelne Figur auf dem altehrwürdigen Haus. Jede einzelne steht für eine der Wissenschaften. Sebastian war auf dem Institut der Geschichte eingeschrieben. Er wollte Lehrer werden und jungen Menschen seinen Enthusiasmus über die Historie weitergeben.

Nun sitzt er hier. Die Parkbank ist sein Schlafplatz. Eine Plane überdeckt die Bank und schützt ihn notdürftig vor Regen. Die ausgetretenen Schuhe stehen unter der Parkbank, nebenbei liegt ein Sack voll Müll. Noch ist die Sonne zu schwach um die Luft aufzuwärmen. Leicht zitternd zieht er sich seine Schuhe an und streckt die Beine durch. Passanten gehen vorbei, halten einen Sicherheitsabstand zu ihm. Ihre Neugier müssen sie trotzdem befriedigen und werfen kurz Blicke in Sebastians Richtung um dann schnell wieder in ihr Smartphone oder einfach in eine andere Richtung zu starren. Irritiert wirken sie in ihrem Tun.

In einer Vorlesung hatte er Sonja kennengelernt – ein fröhliches Mädchen. Sie setzte sich eine Reihe hinter ihm in den Hörsaal auf der Hauptuniversität. An den Namen der Vorlesung kann er sich heute nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich irgendeine in der die Familienbande der Habsburger besprochen wurde – das interessierte ihn nie wirklich. Sonja hatte ihn die ganze Vorlesung mit ihrem Stift im Nacken gekitzelt. Erst später zu Hause bemerkte Markus, der Mitbewohner Sebastians, dass auf seinem Nacken eine Telefonnummer stand. Sebastian war verdutzt. Überlegte wie sie ausgesehen hatte – unwillkürlich musste er lächeln. Einige Tage lang überlegte Sebastian ob ein Anruf nicht peinlich wäre. Aber nach langem hin und her fasste er den Entschluss anzurufen.

Der lange dunkle Mantel ist mit großflächigen Flecken überzogen, die ausgewaschene Hose, die er neben den Sammelboxen für Kleiderspenden fand, ist löchrig. Auf den Schuhen haftet der Schmutz von Tagen und das Loch, aus dem sein großer Zeh ragt, wird immer größer. An jedem einzelnen Bartstoppel bildet sich ein Tropfen Morgentau und kühlt Sebastians Gesicht. Blinzelnd sitzt er auf der Bank und versucht zu sich zu kommen. Rückenbeschwerden plagen ihn, denn so eine Bank ist zwar zum Sitzen nicht unbequem, fürs Schlafen aber nicht gebaut. Sicheren Griffes fasst er mit seiner Hand in die Manteltasche um sich ein Stück angebissenen Brotes heraus zu fingern und mühsam zu verspeisen. Das Kauen ist eine Herausforderung der er sich noch stellt.

Das Telefon läutete nur kurz und schon hob Sonja mit einem fröhlichen „Hallo, wer ist da?“ ab. Sie war ihm bereits beim Betreten des Hörsaales aufgefallen. Mit einem bordeauroten und einem grünen Schuh stapfte sie in den Raum. Anders als die aufgetakelten Studentinnen trug sie die Haare wild zerzaust. „Out of bed look“ nannte Sonja die Frisur, die sie sehr oft trug. Einfach aus Gewohnheit und wegen ihrer Faulheit. Sebastian gefielen die wilden Haare. Sie kämpfte so gegen den Mainstream und das imponierte ihm. Er traute sich solche Unangepasstheit nie zu. Träumte aber davon irgendwann so zu sein. „Wer ist da?“ hörte er wieder die helle, bereits genervte Stimme. „Ja, hallo, ähm… hier ist Sebastian.“, stammelte er ins Telefon. Kurz trafen sich ihre Blicke als sie im Hörsaal einen freien Platz suchte. „Schön, dass du mich anrufst Sebastian. Reden musst du aber schon, sonst wird es etwas einseitig!“. Sebastian war komplett durch den Wind. Er stammelte verwirrte Sätze ins Telefon. Komischerweise verstand Sonja aber die Satzfragmente und fand heraus, dass es sich bei Sebastian um jenen jungen Studenten handeln musste dem sie den Nacken verzierte. Mehr aus Spaß, um zu sehen was passiert, schrieb sie die Nummer hin und machte sich keine Hoffnungen, dass sich der Schüchterne bei ihr melden würde. Immer wieder wehrte Sebastian ihre Kitzelattacken ab, da er sehr kitzelig ist. Außerdem wollte er sich auf die Vortragende und ihr Gesagtes konzentrieren. Immerhin war es eine der ersten Vorlesungen seit Studienbeginn. Dementsprechend aufgeregt war er. Erst vor kurzem war er aus dem Elterlichen Haus in die große Stadt gezogen. Erstmals war er für sich alleine verantwortlich. Natürlich bezahlten die Eltern die Wohnung und sein Leben, aber zum ersten Mal war er alleine und konnte tun und lassen was er wollte.

Langsam steht er von der Bank auf. Er muss sein Nachtlager abbauen, denn bald kommen die Gemeindearbeiter und verjagen ihn von seiner Bank. Also legt er die Plane zusammen, stopft sie in den großen Olivgrünen Rucksack. Die Passanten werden immer mehr und jeder ihrer Blicke trifft Sebastian wie ein Blitz. Es tut weh von oben herab angesehen zu werden. Aber noch mehr schmerzt es ihn, wenn ihn jemand ansieht und Sebastian merkt, dass diese Person Mitleid mit ihm hat, dann aber wegblickt um nicht in die Versuchung zu kommen, mit dieser bemitleidenswerten Kreatur auch nur ins Gespräch zu kommen, oder gar helfen zu müssen. Nach dem Motto „aus den Augen aus dem Sinn“ gehen sie weiter. Sebastian ist selbst überrascht, dass er jeden Morgen aufsteht und sich diesem Spektakel hingibt. Zu wenig Kraft scheint in ihm zu sein. Doch anscheinend ist er stärker als er selbst glaubt. Jeden Tag geht er langsamen Schrittes über die Ringstraße, vorbei an Bauten hinter deren Fassaden glückliche Menschen wohnen. Menschen die im Leben mehr Glück hatten als er. Schnurstracks zum Donaukanal führt ihn sein Weg, wo er den Tag verbringen wird. Auf einer Wiese im Schatten der Bäume, mit Blick auf das vorbeiströmende Wasser.

Schon als Student war er gerne hier am Wasser. Damals waren noch nicht so viele Menschen hier, der Donaukanal war zu dieser Zeit noch nicht „hip“. Man hatte ihn, abgesehen von den Sportlern, für sich. Zahlreiche Bücher hat er am Ufer gelesen, einige Biere mit Freunden getrunken. Auch mit Sonja war er hier gerne hergegangen. Sie lagen oft eng umschlungen im Gras, sogen die Düfte ein, genossen das Hier und Jetzt.

Diese Momente in denen er sich wohl fühlte versucht er sich wieder ins Gedächtnis zu holen. Jeden Tag ist es sein erster Weg. Ohne diese Erinnerungen würde er es nicht schaffen. Als sich Sonja wegen seinem besten Freund von ihm trennte brach für Sebastian die Welt zusammen. Er hatte sich die gemeinsame Zukunft anders ausgemalt. Ein Haus am Land, Reisen durch die ganze Welt und tolle Berufe. Rasch sah er sich mit der Situation überfordert, schmiss das Studium, lebte von Gelegenheitsjobs, weil die Eltern ohne Studium kein Geld mehr überwiesen. Immer mehr isolierte er sich von allen Menschen rund um ihn. Der Freundeskreis, der ihm immer wichtig war, wurde von ihm immer weniger besucht, auch weil ihn alles und jeder an Sonja erinnerte, aber vor allem aus Scham, dass er sein Ziel, den Abschluss an der Uni und somit einen Beruf der auch Berufung war, nicht erreicht hatte.

Nun sitzt er wieder auf der Wiese und starrt ins Wasser. Der Wind rauscht durch die breiten Kronen der Weiden. Es duftet nach gemähtem Gras. Die Erinnerung an Sonja kommt in ihm hoch. Er lächelt. Langsam steht Sebastian auf, geht an den Weiden mit ihren zarten Blattansätzen vorbei, steigt in den kalten Donaukanal bis seine Füße ihm keinen Halt mehr bieten und gibt sich dem Wasser hin.

Traum oder Realität

Wir hatten einen Traum. Man soll mich aber bitte nicht missverstehen, denn dieser Traum war nicht nur ein Hirngespinst eines verwirrten Menschen sondern von einem kollektiven „Wir“. Wir hatten einen Traum und dieser Traum wurde auch im Großen und Ganzen verwirklicht. Es war keine Illusion, keine Utopie mehr, die in verstaubten Bibliotheken ausgearbeitet wurde. Nein. Sie wurde mit Leben befüllt und umgesetzt. Hindernisse wurden abgebaut, Barrieren zerschlagen. Bis fast nichts mehr darauf hinwies wie es einmal war. Meine Generation vermag sich noch vage daran erinnern wie es war. Sei es aus Erzählungen der Eltern oder tatsächlich aus eigener Erfahrung. Aufbruch würde diese Entwicklung sehr gut beschreiben. Es war auch ein Aufbruch. Sogar ein Durchbruch. Grenzen wurden durchbrochen und somit unwichtig. Denn eine Grenze die durchbrochen wird, ist defacto keine Grenze. Die Utopie einer Welt ohne Grenzen wurde so zur Realität. Nicht nur physische Grenzen wurden abgerissen, auch Grenzen im Denken der Menschen wurden weniger.

Leider muss man heute sagen, dass es scheint, dass viele vergessen haben welch immense Kraftanstrengungen es benötigt um Barrieren zu beseitigen. Welches Kollektiv es braucht um diesen Kraftakt zu bewältigen. Nun werden lange vergessene Grenzen zurückgebaut und neue Grenzen errichtet. Martialisch stehen sie inmitten unserer Städte. Sie sollen uns beschützen, das Sicherheitsgefühl stärken. Aber sind Grenzen dazu überhaupt im Stande?

Die zurzeit in europäischen Städten beliebten Poller haben eine Funktion die sie wahrscheinlich auch erfüllen können – sie halten größere Fahrzeuge ab, in eine Menschenmenge hinter den Pollern zu rasen und so zu verletzen oder zu töten. Gut. Die wichtigste und sehr spezielle Funktion wird erfüllt. Das Sicherheitsgefühl stärken tun sie nicht. Immer wenn man an solch martialischen Absperrmechanismen vorbeigeht, sie durchschreitet, wird man unweigerlich daran erinnert was nicht passieren könnte und was schon passiert ist. Es wird Angst generiert und am Köcheln gehalten. Immer mehr dieser Einrichtungen wachsen in Europa aus dem Boden. Fast so schnell wie die Schwammerl im feucht-warmen Herbst. Die Schwammerl vermögen – pflückt man die Richtigen – nach dem Abschneiden und Kochen deliziös zu schmecken. Ähnlich könnte man das Gefühl beschreiben, wenn Grenzen überflüssig werden.

Mit Ach und Krach

Ein breites Lächeln, man könnte fast sagen, von einem Ohr bis zum Anderen, grinste mich an. Angesteckt von der augenscheinlichen Fröhlichkeit, wurde auch ich, trotz schlechtem Start in den Tag schnell frohen Mutes. Einige Fragen hatte ich mir bereits am Vortag notiert und recherchiert, wie denn mit diesem nicht alltäglichen Gast umzugehen sei. „Selten verliert er ein Wort!“ „Stillschweigend saß er da“, „Eisig kalt war seine Aura“. So der Grundtenor über Gespräche oder Nicht-Gespräche mit eben jenem Dauergrinser.

Die perfekt weißen Zähne zogen mich in ihren Bann. „Wie kann man solch schneeweiße Kauwerkzeuge haben?“ Unbewusst stellte ich diese Frage laut und stieg somit in das Gespräch ein. Etwas verdutzt wirkte er zu Anfang über die unkonventionelle Frage, antwortete aber sogleich süffisant lächelnd: „Nicht all meine Geheimnisse werden hier und heute gehoben werden! Aber seien Sie versichert, mein Zahnarzt hat immer Freude mich zu sehen.“

Mit hochrotem Gesicht und stark schwitzend versuchte ich den Faden den ich gleich am Anfang weggeworfen hatte, wiederzufinden. Gelingen konnte dies jedoch nicht mehr. Zu fern war er weg, unerreichbar für mich. So entschloss ich unbewusst einen anderen Weg einzuschlagen und hörte mich „Na, viel zu Arbeiten gibt´s da wohl für ihn nicht“ sagen. Sichtlich amüsiert schüttelte er seinen schmalen Kopf. „Kommen wir zu weitaus Wichtigerem! In Ihrem Beruf ist es wichtig die richtige Kleidung zu tragen. Wo findet man solch außergewöhnliche, gleichzeitig unmodische Schneiderei?“ „Naja, wie gesagt, nicht all meine Geheimnisse werde ich euch preisgeben, aber eines kann ich euch sagen: Dieser Kapuzenumhang ist schon sehr alt. Den habe ich vor langer Zeit in Wien erstanden.“ Unbewusst zogen sich mir die Augenbrauen hoch und die Augen wurden groß. „Wien ist aber für diese Modelinie nicht bekannt geworden?“, lächelte ich verschmitzt in seine Richtung. Er war zum zweiten Mal verdutzt über die für ihn ungewohnte Fragenstellung.

Sichtlich belustigt über diese Abwechslung antwortete er: „Na da hat sich aber jemand amüsante Fragen einfallen lassen. Diesen Stoff hat mir ein Herr im zweiten Bezirk verkauft bevor ich ihn geholt habe. Es war der letzte Groschen den er bekam.“ Mit dieser Antwort nahm er jedes Amüsement aus dem Gespräch. Die vorherige Situation war weg, einfach vom Tisch geschoben. Meine Nervosität kam wieder auf und ich musste mich an die Worte erinnern die über den Gevatter geschrieben wurden. Und da war der eisige Hauch, der beschrieben wurde. So musste es sich anfühlen wenn er jemanden abholen kommt. „Ist es für mich schon Zeit zu gehen?“ fragte ich mich in Gedanken. „Zu früh“, schoss es mir durch den Kopf. „Das ist doch ein normaler Interview Termin, zwar mit einem außergewöhnlichen Gast, aber sonst ist nichts anders!“, versuchte ich mich zu beruhigen. „Und wenn er doch meinetwegen hier ist und dies meine letzten Minuten als Lebender sind?“, fragte ich mich panisch.

Diese Frage konnte ich mir nicht beantwortete, denn er klopfte laut mit seiner Sense auf den Boden und schnauzte mich an: „Ihre Zeit wird knapp!“ Mein Puls stieg ins Unermessliche. Ich glaubte Ohnmächtig zu werden, so rasend pumpte mein Herz das Blut durch die Adern. Ich fühlte mich wie die Maus die die Katze im Nacken weiß, sich aber nicht aus der Deckung wagt, um durch eine Schockstarre die Gefahr auszusitzen. Deckung hatte ich aber keine, ich saß dem Tod Auge in Auge. Dieser Gedanke brachte mich zum Schmunzeln. „Solche Tagträumer verschwenden meine kostbare Zeit!“, hörte ich ihn rufen. Erzürnt sprang er vom Sessel hoch und wandte sich der Tür zu. Kurze Zeit später fiel sie knallend ins Schloss und er war weg. Mein Puls verlangsamte sich. Der Schweiß versiegte und ich dachte: „Na das kann ein Wiedersehen werden!“

Wie, watt?

Regelmäßig schwappen kleine Wellen ans Ufer. Kurz vor dem sumpfigen Strand zerfällt das Wasser in Gischt. Immer langsamer werdend versiegt es im Untergrund und hinterlässt geglätteten Morast. Für kurze Zeit ist das Wasser weg und schon fängt es im Schlamm zu blubbern an. Die nächste Welle überspült alsbald den Strand wieder. Beruhigendes Rauschen des Meeres lässt den Alltag vergessen und ich bin so richtig im jetzt und hier. Fühle meine Hände kühl werden. Spüre den salzigen Geschmack meiner Lippen. Kuschelig weich bettet das saftige Grün meinen Hintern. Das kalte Lüftchen umschmiegt meinen Körper. Alleine sitze ich hier auf dem grünen Damm und schaue dem Wasser bei seinem Spiel zu, wie es ein ums andere Mal anlandet. Trübe Wolken ziehen rasch vorbei und verändern von Minute zu Minute die Stimmung. So richtig positiv gestimmt bin ich nicht, obwohl mich diese Situation sehr beruhigt. Manche Menschen sehen in mir immer eine in sich ruhende Person die so leicht nichts aus der Fassung bringen kann. Für mich fühlt sich das aber anders an. Erst in Situationen wie diesen, kann ich mich fallen lassen. Kann Gedanken an Alltägliches wegschieben und mich an Kleinigkeiten erfreuen. Starr ist der Blick aufs Wasser. Vergnügt springen meine Gedanken im Kopf umher, um sich nach kurzem Aufblitzen wieder zu verabschieden. So komme ich von einer Idee zur nächsten – vom Hundertsten zum Tausendsten. Allmählich kommt die Meeresbrandung immer weiter weg von meinen Füßen zum Erliegen. Das Schauspiel beginnt. Veränderung steht bevor. Die schlammige Fläche, blubbernd, mit zahlreichen Lachen breitet sich aus, das Meer verschwindet. Seevögel landen auf ihr, stechen mit ihren langen, dünnen Schnäbeln in die weiche Landschaft, ziehen kleine Tiere heraus, um sie zu fressen. Kurz nachdem das Wasser die neue Landschaft freigegeben hat, wimmelt es nur so von kreischenden Besuchern, die sich die Bäuche vollschlagen. Eine völlig neue Szenerie ist entstanden. Auch die weißen Knäuel links und rechts neben mir am Damm wurden mehr und vor allem Größer. Langsam haben sie sich immerzu fressend an mich angepirscht und ich finde mich nun umringt von Wiederkäuern am Damm sitzend wieder. Ab und an blinzeln Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, erhellen einen willkürlich ausgesuchten Punkt wie ein Scheinwerfer. Ein Stück Schlamm in dem sich unansehnliche Würmer im Tunnelbau üben, wird für einen Augenblick bestrahlt wie ein Star auf einer Bühne. Doch hier sitze nur ich und bin stiller Beobachter dieses phänomenalen Schauspiels. Die Schauspieler bekomme ich aber nicht zu Gesicht. Freude macht sich in mir breit. Freude darüber diesen so normalen Augenblick ganz alleine und mit allen Sinnen miterlebt zu haben. Ein Augenblick der Stille, der unspektakulär war, sich aber in meinen Erinnerungen aufgrund des „Nichts“ einbrennen wird. Eine Reduktion einer Situation die für mich einfach nur Schönheit bedeutet. Abseits dessen was täglich als schön verkauft wird. Ein dicker Regentropfen zerplatzt auf meiner Nase. Spritzt seinen feinen Sprühregen auf meine Wangen. Der nächste Tropfen trifft mich am Ohr. Es ist Zeit zu gehen. In den Alltag zurückzukehren, bis sich wieder die Chance ergibt einen ganz unscheinbaren Augenblick, für sich als etwas Besonderes zu entdecken.

Ich habe nichts!

Mit dem Wort Anfang ins neue Projekt-Text-Jahr zu starten ist für mich eine Herausforderung. Zu viele Gedanken verschwende ich zurzeit ohnedies an den vermeintlichen Neuanfang im jungen Jahr. Alles scheint möglich, alles ist offen. Gerade diese Situation lähmt mich und dann kommt eine Aufgabe die genau in jene Richtung geht und trotz viel Überlegen und Nachdenken nicht so leicht von der Hand gehen will. Aber genug gemotzt, jeder Anfang bedarf eines ersten Schrittes. In meinem Fall eines ersten Satzes. Eines ersten Wortes. Eines ersten Buchstaben.

„um ein gedicht zu machen

habe ich nichts

eine ganze sprache

ein ganzes leben

ein ganzes denken

ein ganzes erinnern

um ein gedicht zu machen

habe ich nichts“ (Zitat: Ernst Jandl)

Die Worte Jandls helfen mir leider auch nicht weiter und ich stehe weiter vor der Herausforderung trotz einer ganzen Sprache, einer Fülle an Erfahrungen, unzähligen Erinnerungen eine unüberwindbare Mauer vor mir zu sehen, die nicht übersprungen werden will.

Bedrückt stehe ich nun vor diesem Hindernis und fange langsam an zu verzweifeln. Der Anblick dieser steinernen Mauer, lässt Erinnerungen an Kirchenbesuche aufkommen. So schnell kann es gehen und man findet sich in einer Kirche wieder. Naja, an sich mag ich Kirchen, nur das Prozedere das sich in ihnen immer aufs neue widerholt ist mir zuwider. Unvorhergesehen kommen mir die Worte aus Predigten Geistlicher in den Sinn, wie sie die Bibel rezitieren und ihre ersten Worte vor der Kirchengemeinde sprechen. In ihrer eigenen Vortragsart, in ihrer fast schon gesungenen Sprache. Es hat etwas von Feierlichkeit diese bis ins kleinste Detail zelebrierte Art etwas vorzutragen und über allen Anfang zu sprechen. Der Anfang wie er in dem fiktionalen Werk Bibel beschrieben ist.

„Im Anfang war das Wort.

Und das Wort war bei Gott,

und das Wort war Gott. […]

Alles ist durch das Wort geworden

Und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“

Ohne das Wort wird auch mein Text nichts werden. Wie geht es da anderen Autorinnen? Wie gehen die an die Sache ran? Wie überbrückt man eine Schreibblockade? Gibt es da einen Trick? Meine Herangehensweise beschränkt sich auf das Umschiffen eine Geschichte zu erzählen und mich über meine ach so schlimme Situation zu echauffieren – auch eine Möglichkeit eine Geschichte zu schreiben…

Ferngesteuert

Bereits in den ersten Tagen des Jahres überkam mich ein Gefühl der Unrast. Nirgends wo ich mich aufhielt verließ es mich. Tief eingenistet musste es sich haben, mit dem Ziel mich stetig durch Unwohlsein in der Bauchgegend darauf aufmerksam zu machen, dass etwas nicht stimme. Hatte ich es vergessen, traf es mich wie aus heiterem Himmel und beschäftigte mich ob Tag ob Nacht.

Es muss die erste Tropennacht gewesen sein, als ich des Gefühls wegen meine müden Augen nicht ausrasten konnte. Wach mit Bauchweh lag ich im Zimmer. Neben mir ein tiefschlafender Körper, gleichmäßig atmend, als ob es nichts Einfacheres gäbe als zu schlafen. Im Dunkel der Stadt die typischen Geräusche. Aufheulende Autos, Betrunkene am Heimweg, das Rauschen des Windes.

Ich lag am Rücken und stierte Löcher in die Dunkelheit, empfand großen Ärger darüber, dass ich nicht schlafen konnte, die Person neben mir jedoch schon. Da erwischte ich mich dabei darüber nachzudenken durch heftiges Herumwälzen mein Nebenan aufzuwecken, sollte diese Aktivität nicht das erwünschte Ziel erreichen, mich anzukuscheln und durch den heißen verschwitzten Körper ein Aufwachen zu erzwingen. Erschrocken über meine Gedanken, kam ich wieder in meine Realität: Hitze, Schweiß, nicht-schlafen-können, rauschender Wind.

„Hm, warum kommt dieser Wind nicht zu mir und verschafft mir Abkühlung?“ schoss es mir ins Hirn. „Da muss etwas faul sein.“ Aber ich war auch faul und musste mich wirklich zwingen aufzustehen um diesem Paradoxon auf den Grund zu gehen. Langsam schob ich mich aus dem knarrenden Bett, zog herumliegende Kleidung an und ging im Nebenzimmer zum offenen Fenster. Ich hörte den Wind, spüren konnte ich in leider nicht. Ein kurzer Besuch auf der Toilette, nur um zu sehen ob das Bauchweh doch anderer Natur war, und schon stand ich auf der Straße. Die Tür fiel hinter mir leise ins Schloss, die Stadt schlief. Nur ich und ein paar wenige Betrunkene torkelten durch die nächtliche Straße. Von Wind keine Spur.

Langsam wurde es mir zu bunt und zu heiß. Ein kleines Lüftchen auf meinem Körper hätte mir schon genügt. Doch kein Erbarmen. Die Perlen auf meinem Körper vereinigten sich zu herzeigbaren Bächen und überfluteten mich mit Flüssigkeit. Erst jetzt wurde mir Bewusst, dass ich mir in meiner nächtlichen Verwirrtheit meine Badehose übergestreift hatte. So stand ich inmitten der Großstadt nur im Badeoutfit. Naja, am Strand ist man doch auch so unterwegs, also nicht so schlimm. Außerdem war ich der Aufklärung des Rauschens ohne Wind auf der Spur. Ich hörte es immer noch und auch das Unwohlsein begleitete mich wie ein ungebetener Gast. Immer weiter entfernte ich mich von der Wohnung, nicht wissend wo die Reise hingehen wird – einem unbekannten Ziel entgegen.

Ohnmacht

Die nächste Welle überspült mich, zieht mich kurz weiter ins frische Wasser. Der Wind peitscht mir Tropfen ins Gesicht. Unfähig dieser Macht zu entkommen treibt es mich immer weiter fort vom Strand. Kein Mensch ist am Ufer. Keiner weiß dass ich baden gegangen bin. Niemand ahnt, dass ich davon treibe, von Wellental zu Wellental. Alle schlafen.

Die letzte Nacht hatte so ihre eigenen Wellentäler, die Hoch und Tiefs der Emotionen. Wir waren am späten Nachmittag angekommen. Abgekämpft von der 7 stündigen Autofahrt landeten wir in einem kleinen Dorf. Staubige Erdpisten haben uns schon die letzten Tage Rückenschmerzen beschert und auch hier war in dieser Hinsicht kein Komfort zu erwarten. Zumindest stand für die nächsten 48 Stunden keine Autofahrt am Programm. Nach kurzer Orientierung im Dorf fanden wir auch unsere Unterkunft. Maria und Oleg erwarteten uns bereits. Knarrend schloss sich die große Holztür und hinter dem Bretterzaun fanden wir eine völlig andere Welt. Grüner Rasen, gepflegte Beete, unterschiedlich große Hütten mit kleinen Schornsteinen und eine rustikale Feuerstelle. Maria führte uns durch den Garten und erklärte uns in unverständlicher Sprache was sich hinter jeder einzelnen Tür verbarg. Die Banja und das Esszimmer befanden sich zu unserer Freude gleich neben unserer Schlafhütte. Abgekämpft ließen wir unser Gepäck in der Hütte fallen und gönnten uns ein wenig Ruhe.

Nahes Hundegebell hob uns aus dem Schlaf. Die Sonne stand noch hoch, unsere müden Augen ließen auf eine andere Uhrzeit schließen. Ein kurzer Ausflug zu einem kleinem Geschäft, ähnlich den Greißlern aus Erzählungen der Eltern, und wir hatten unsere Abendbeschäftigung – Vodka mit Fruchtsäften und Knabbereien. So ausgerüstet nahmen wir auf der kleinen Veranda vor unserem Schlafraum Platz. Maria, sie war eine hervorragende Köchin, lud uns zum Lagerfeuer ein. Dort wartete Oleg mit einer Flasche Selbstgebranntem winkend auf uns. Mein Kopf war schon sehr schwer vom russischen Vodka, Olegs Eigenkreation setzte aber noch einen drauf. So saßen wir um ein großes Feuer und genossen die warme Sommernacht mit Hochprozentigem und Selbstgekochtem. So einen Sternenhimmel hatte ich noch nie gesehen. Lag wohl auch daran, dass hier keine einzige Straßenlaterne zu finden war – die Weite Sibierens ist ja dünn besiedelt.

Schnaps, Vodka und vor jedem Kurzen eine Ansprache, so funktioniert ein russisches Besäufnis. Nett eigentlich, sich vor jeden Schluck, vor jedem Stamperl etwas Charmantes zu sagen und auf das zu trinken – auch wenn es am nächsten Tag vergessen ist.

Schon wieder eine Welle die mich übermannt. Mittlerweile habe ich aufgehört gegen das mächtige Wasser anzukämpfen. Zu aussichtslos ist der Kampf. Ich gebe mich den Naturgewalten hin. Hier im Wasser ist auch das Kopfweh fast erträglich. Noch immer vom Alkohol erfüllt wiegen mich die Wellen des Sees. Ab und an überspült mich eine und zieht mich kurz unter Wasser. Meine Füße sind bereits eiskalt, die Hände klamm. Ich zittere und muss ganz blaue Lippen haben. Der Strand ist noch sichtbar aber unerreichbar. Immer nach einer alkoholtrunkenen Nacht wache ich sehr früh auf. Diesmal wollte ich unbedingt den Morgen nutzen um im Baikalsee baden zu gehen. Nun treibe ich hilflos in diesem unendlich scheinenden See und ergebe mich meinem Schicksal. Der Alkohol macht mich unfähig dieser Situation zu entfliehen. Er lähmt mich im Denken, in jeder Bewegung. Er macht mich Hilflos.

Der große Wagen

Tja, ich habe keine Ahnung warum ich heute wieder hier hergekommen bin. Es fühlt sich nicht richtig an. Trotzdem hat mich eine unsichtbare Hand hergeführt. Fahles Licht fällt in den schlecht beleuchteten Raum, Rauchschwaden dämpfen die Sicht zusätzlich. Aus dem Nebel kommt eine Gestalt näher, fragt was ich bestellen will, schreibt mit und verschwindet anschließend in den weißen Weiten. Der Gastraum ist gut gefüllt, nicht dass ich viele Menschen gesehen habe, aber hören kann ich zahlreiche Gesprächsfetzen. Normalerweise kann ich diese Störgeräusche gut ausschalten und mich in meine Welt hineinversetzen, in die ich mich an diesem Tag gerade verlieren will. Aber heute gelingt es mir nicht. Einerseits weil ich kein Buch bei mir habe, andererseits konnte ich bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keinen Schluck Gin-Tonic genießen. Der Tag war nicht auf meiner Seite. Erst musste ich schon um halb 10 aus dem Bett, konnte somit den Rausch des Vortages nicht ausschlafen wie sonst, weil sich ein Junger Mann ein Zimmer in meiner Wohnung ansehen wollte. Er ist wohl ein Frühaufsteher, darum der Termin in der Früh. Eigentlich wollte ich gar kein Zimmer vermieten, ich liebe es alleine zu leben und mich um niemanden kümmern zu müssen. Aber die Umstände der letzten Wochen machten es unausweichlich, dass ich mir einen WG-Partner – wie ich diese Wortkreation „Wohngemeinschaft“ schon hasse – suchen musste.

Alles fing an einem Dienstag Anfang April an. Wie jede Woche kam ich aus Langeweile, ausgestattet mit einem Büchlein in der Jackentasche, im Café an, setzte mich an den hintersten Fensterplatz im Lokal, dort ist man am ungestörtesten und hat wenn gute Sichtverhältnisse herrschen alles im Blick und bestellte fürs erste ein Seiterl und eine Fruchttorte. Ich trinke keinen Kaffee und Tee habe ich früher zur Genüge in mich hineingeschüttet. Das kleine Bier war gerade mit einem großen Schluck in mir verschwunden als die Türe mit einem Klingeln aufging und sich Sekunden später der schwere rote Vorhang teilte. Eine junge Frau, Mitte 20, schaute um sich, suchte einen freien Platz. Kurz aus der imaginierten Welt herausgerissen, vertiefte ich mich schnell wieder in Roths Legende vom heiligen Trinker.

Zwei Getränke später verschwamm kurz die Welt Roths mit meiner. Der Kopf war schwer, die Augen wässrig. Langsam nur klärte sich der Blick. Völlig das Zeitgefühl verloren, suchte ich die junge Frau von vorhin. Nirgends war sie zu finden. „Naja, Pech gehabt. Vielleicht kommt sie ja morgen wieder. Ich werde hier sein.“, dachte ich und bezahlte. Egal war sie mir jedoch nicht. Leicht wankend setzte ich Schritt für Schritt aufs Trottoir. „Vielleicht hat sie mich auch bemerkt und spürt ebenfalls ein Gefühl von Freude und Niedergeschlagenheit.“ Das zumindest hoffte ich insgeheim. So konnte ich weiter hoffen, dass sie morgen oder den Tag danach wieder auftauchte und ich mich darauf freuen konnte sie wiederzusehen, sie anzusprechen.

Leicht ist es nicht auf diesem typischen Wiener Pflaster sicheren Fußes von A nach B zu gelangen. Noch dazu wenn der Kopf schwer, der Blick getrübt, die Wahrnehmung eingeschränkt ist. Der letzte Lokalbesuch wurde dann doch länger. Ein flüchtiger Bekannter verwickelte mich in ein Gespräch über Sport. An und für sich bin ich ein Sportbegeisterter Mensch, was auch damit zu tun hat, dass der Sport in Österreich auch immer einen Anlass gibt sich mit Alkohol zu betäuben und da bin ich immer gern dabei. Aber diese Fremde ließ mir auch an diesem Tag, wie die Wochen zuvor keine Ruhe. Immer wieder musste ich an sie denken. „Was wenn sie nicht mehr ins Café kommt?“ „Was wenn ich sie anspreche und sie hat kein Interesse an mir?“ Ständig diese Fragen, diese Bilder im Kopf. Das Sportgespräch dauerte schon einige Zeit, es ist schon finster. Daher breche ich es ab und lasse den Bekannten alleine an der dunklen Holztheke zurück.

Die klare Luft der Nacht überrumpelt mich beim ersten Schritt aus dem Lokal. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und ich stehe in der Stille. Nur die Sterne am Himmel und das fahle Licht der Straßenbeleuchtung weisen mir den Weg. Nicht dass ich mich anhand der Sterne orientieren könnte, ich finde gerade mal den Großen Wagen, und so nach Hause finden würde. Trotzdem lege ich regelmäßig den Kopf in den Nacken um den Sternenhimmel zu bewundern. Aus dem Nichts kommt ein Lichtkegel von Links. Hupen. Quietschende Reifen.

!!EILMELDUNG!!

BERNHARD MAYER IST TOT: Der gefallene Fußballstar Bernhard Mayer ist gestern nach einer durchzechten Nacht am Heimweg in den Verkehr getorkelt und mit dem Auto einer jungen Frau (26) kollidiert. Mayer war sofort tot.

Gefangene in einer fremden Zeit

„Zu meiner Zeit hätte es das nicht gegeben!“, dieser Satz ist wohl jedem geläufig. Ausgesprochen meist von Menschen in gesetztem Alter, die über mehr Lebenserfahrung verfügen als die jüngeren Hörer des Satzes. So verwunderte es mich auch nicht, als ich ihn wieder hörte und er von einer deutlich älteren Frau kam. Diesmal wurde der Ausspruch noch unterstrichen von einem „Ob ich das noch erleben werde?“. Die ältere Dame hinkte mit dem rechten Fuß und stützte sich deshalb an einer Krücke, die drei Füße hatte, ab. Diese Krücke alleine brachte mich schon zum Denken, aber die Aussage der Dame übertrumpfte schnell die Überlegungen zu der komischen Gehhilfe.

Im kleinen Städtchen im Salzkammergut wurden wieder einmal Bauarbeiter bemüht, mit schwerem Gerät das Erdreich zu durchpflügen. Diesmal blieb kein Stein auf dem anderen. Der Bahnhofsvorplatz war eine große Grube. Unüberwindbar klaffte das Loch inmitten der Stadt. Ein Holzsteg ermöglichte zumindest den Fußgängern ein sicheres Vorbeikommen. Von dort aus bot sich ein herrlicher Blick in die Baugrube, den auch die Dame kopfschüttelnd wagte. Verständnislos und mit zitternden Knien stand sie vor dem Krater. Als ob vor ihren Augen eine Welt zusammenbrach, kamen ihr dann diese Worte über die Lippen: „Zu meiner Zeit hätte es das sicher nicht gegeben! Alles muss neu gebaut werden. Ist denn das Alte nicht mehr gut genug?“ Verwirrt blickte ich mich um, hatte ich doch nur diese Dame wahrgenommen. Wir beide standen tatsächlich alleine am Steg, sie konnte somit nur mich gefragt haben. „Der Vorplatz war doch schon lange nicht mehr schön anzuschauen. Endlich tut sich hier mal was.“, antwortete ich vielleicht etwas zu harsch. „Sie sind ja viel zu jung, sie verstehen das nicht! Jetzt bauen die monatelang um und überall ist der Dreck! Ob ich das Ende der Bauarbeiten noch erleben werde?“, entgegnete sie mir. Sie humpelte langsam Richtung Zentrum und ließ mich verdutzt am Steg zurück.

Der laue Frühlingswind wirbelte Staub auf, trug ihn in luftige Höhen und mir in die Augen. Wie nach dem Aufstehen rieb ich die Augen und versuchte den Dreck wegzuwischen. Doch der Staub reizte die Augen dermaßen, dass sich langsam mein Blick trübte und die gesamte Szenerie nur mehr verschwommen ersichtlich war. Die Bauarbeiter und ihre Maschinen erkannte ich nur noch Schemenhaft, die Baugrube war ein großer brauner Fleck. So konnte ich keinen Schritt auf meinem Weg machen, also blieb ich, blind wie ich war, am hölzernen Steg stehen und blickte mit wässrigen Augen in die mir verschwommene Welt.

So verschwommen sich mir die Umgebung in dem Moment darstellte, so wird auch die Erinnerung der Dame von vorher sein, ansonsten könnte sie nie die Vergangenheit so glorifizieren. Auf der anderen Seite verstehe ich aber auch ihre Angst vor dem Neuen und Unbekannten. Sie die ihr Leben schon zu einem großen Teil hinter sich hat, hat nur noch die Erinnerung an ihr Leben, egal wie verschwommen diese auch sein mag und hat in dieser Zeit auch drastische Veränderungen jeglicher Art miterlebt, begrüßt, verhindert – egal wie sie sich darstellten, sie musste lernen mit den neuen Gegebenheiten umzugehen. Langsam glaubte ich die alte Dame zu verstehen. Ihre Angst zu begreifen. Die Gegenwart und die Zukunft sind im Falle der Dame eine Bedrohung – eine Bedrohung ihres Lebens. Sie lebt daher in der Gegenwart, lebt aber noch mehr in ihren Erzählungen und Erinnerungen des vergangenen Lebens und schiebt die Bedrohung so vor sich her. Sie ist demnach eine Grenzgängerin zwischen den Zeiten, oder eine Gefangene in einer fremden Welt.

Ratternd und mit einigen schrillen Quietschern ächzte ein Schaufelbagger von der asphaltierten Straße, hin zur Baugrube. Bedächtig kam er voran und forderte so die empfindlichen Ohren heraus. Langsam schärfte sich mein Blick, langsam kam ich wieder in meine mir bekannte Welt zurück. Ein stechender Schmerz im Knie erinnerte mich beim ersten Schritt an meine Bänderzerrung, also humpelte ich vorsichtig weiter meines Weges und summte vor mich hin: „Zu eanara Zeit hätt´s des ned gebn! Die ham nu eanan Kaiser gseng! Damois hams die Fiaß a nu ned so gspiat, wias Tanzn woan, beim Domaier und da Lehar Franz hot dirigiert.“ (Zitat: Ambros Wolfgang – De oidn Leit)

Fragment

FragmentDie Hitze der sommerlichen Großstadt war erdrückend. Kein Lüftchen sorgte für Erfrischung der aufgeheizten Metropole. Menschen suchten nach schattenspendenden Bäumen, sprangen in die Fluten oder besorgten sich Kühlgeräte. Doch wirklich helfen konnte dies alles nur kurzfristig. Wieder einmal ging die Tür auf, das Licht ging an. Heiße Luft kam in den erhellten Raum. Eine Hand griff kurz in die Kühle zog sich zurück und schloss die Tür. Die Finsternis hatte abermals die Oberhand gewonnen. Langsam machte sich ein neuer, sehr intensiver Geruch breit. Leichte Nuss und Rosinen Aromen vereinten sich mit einem unbeschreiblichen Milcharoma. Noch nie verbreitete sich hier solche ein Geruch.

Aus unteren Gefilden vernahm man zuerst eine Regung. Laute durchdrangen die Finsternis. So war es immer dann, wenn das Licht ausging und die Türe geschlossen wurde. Und es kam auch immer erst von Unten ein Laut, um sich langsam aber bestimmt auf alle Etagen auszudehnen. Wie wild wurde einige Zeit später debattiert. Es war nicht sehr viel los in dem mehrstöckigen Raum. Man könnte sagen es war langweilig. Spannend wurde es immer erst dann, wenn sich die Tür öffnete, sich durch einen Mechanismus das Licht einschaltete und etwas hineinkam oder entnommen wurde. Erst dann wurde es laut. Dann hatte man etwas zu besprechen.

„Riechst du das?“ hörte man jemanden leise fragen. Stille. Dunkelheit. „Ja! So etwas hab ich aber noch nie gerochen. Das soll was heißen, bin ich doch am längsten hier.“, erklärte eine etwas tiefere Stimme. „Was könnte das wohl neues sein? Ich bin gespannt was die anderen sagen können.“, kam wiederum die Stimme von ganz unten. Immer mehr Fragen tauchten so von den unterschiedlichsten Stimmen und Etagen auf. „Nuss! Ich rieche Nuss!“, warf jemand mit schriller Stimme ein. Ein Brummen kam zustimmend aus der Finsternis.

Immer weiter wurde das Aroma beschrieben und formte so ein Bild für alle die den Gesprächen folgten und das war jeder hier in der Finsternis. Denn niemand konnte sich der Neugier entziehen. Fast jeder Tag verlief gleich und so kam es, dass diese Vorhersehbarkeit allen auf die Nerven ging, aber auch einen gewissen Kick verbreitete, denn niemand wusste wer denn der oder die Nächste war. Wer aus der kühlen Luft nach Draußen genommen wurde und zurückkehrte oder nicht. Denn zu oft blieb ein Platz leer. Nur die Wenigsten hatten die andere Welt gesehen und waren auch wieder zurückgekehrt. So kommt es immer wieder vor, dass in ruhigen Momenten die Glücklichen zu erzählen beginnen. Sagenhafte Geschichten werden dann vorgetragen. Von einer magischen Welt außerhalb der ihnen bekannten und vertrauten Umgebung.

Ein Versuch

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Zu aufgewühlt bin ich, höre ich jemanden seiner Geliebten liebwollend einen Kosenamen zurufen, sodass eine Diskussion über den nett gemeinten, aber doch deplazierten Ausdruck von vornherein obsolet ist. Ich will nicht als Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger herumfuchteln und dadurch ihre Fröhlichkeit in meine innere Aufgeladenheit umkehren. Aber wie kann ich nun mit der Energie umgehen, die vom Bauch her aufsteigt und sich verbal entladen will.

Lange Zeit unternahm ich den Versuch gewisse Worte zu ignorieren, quasi auf Durchzug zu schalten. Der Erfolg lässt noch heute auf sich warten. Vermutlich weil zwischen beiden Ohren bei den meisten Menschen eine Datenverarbeitungsmaschine sitzt, die das „Durchzugsunterfangen“ fast unmöglich macht. Anstatt leiser zu werden, wurden gewisse Wörter lautstark in die sensiblen Hörorgane katapultiert und ich erreichte somit genau das Gegenteil meines Ziels.

Mit diesem Bewusstsein, das menschliche Gehirn nicht überlisten zu können, musste ich neue Strategien entwickeln. Ohrstöpsel fand ich unpassend, außerdem erschweren sie das Hören sehr und unbeteiligt an Gesprächen teilnehmen ist an sich schon grotesk, sodass die Strategie verworfen werden musste. Doch eines konnte ich aus diesen Überlegungen schon gewinnen: Wenn ich nicht aktiv an Gesprächen teilnehmen kann, weil ich ein Problem mit manchen Wörtern, oder besser mit dem Gebrauch dieser, habe, muss ich nicht unbedingt an diesen teilhaben. Deshalb machte ich mich jedes Mal auf meine Beine zu vertreten, verspürte ich Nadelstiche im Ohr.

Die Taktik funktionierte gut, ich war begeistert. Doch ein Teil meines Körpers konnte sich auch auf diese Methode bestens einstellen. Immer wenn ich meine „Entlastungsspaziergänge“ unternahm, wurde ein Gefühl im Bauch von Mal zu Mal stärker. Ich konditionierte mich selbst wie einst Pawlow seine Hunde. Experiment in meinem Sinne gescheitert. Herr Pawlow behält Recht. Verbaler Ausdruck einer liebgemeinten Wertschätzung in Kombination mit darauf folgenden Spaziergängen, löst bei mir Ärgernis und Aufgewühltheit aus.

Dieser letzte Versuch und dessen Scheitern ließ mich resignieren. Langsam musste ich mich dem Schicksal ergeben ein ständig nörgelnder Mensch zu sein, der seinen Mitmenschen derart auf die Nerven geht, dass sie sich nicht mehr mit ihm abgeben wollen. Somit wäre mein Problem auch gelöst gewesen. Ich will mich aber nicht so weit isolieren. Also ein letztes Mal. Aufrappeln. Hinsetzen. Nachdenken.

Und dann wie aus dem Nichts, die Erlösung. Was habe ich in meinem kurzen Leben schon seit meiner Kindheit gemacht? Seit Kindertagen gehe ich gedanklich auf Reisen, schalte die Umgebung aus und verliere mich in meiner Welt mit meinen Regeln. Und in dieser meiner Welt gibt es niemanden der mich zur Weißglut bringt.

Alltagsbild

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Einer der letzten warmen Tage des Jahres neigt sich dem Ende zu. Die Sonne taucht die Innenstadt in ein wohliges Licht. Die Straßen sind trotz fortgeschrittener Stunde von Passanten bevölkert. Sie schlendern gemütlich über die Kopfsteinpflaster, hin und wieder knickt jemand mit einem Bein um und humpelt einige Schritte. So vergänglich wie der Schmerz zumeist ist, ist auch diese Szene. Wie ein fremdartiges Accessoire stehe ich an eine alte Häuserwand gelehnt und beobachte das Treiben. Eine Gruppe Menschen zwängt sich zwischen lose herumstehenden Gartenmöbeln und einem Fiaker Gespann durch und erreichen den sich öffnenden Platz. Lustig scheint es ihnen zu sein, hier in diesem Trubel. Nebenbei hat ein Straßenkünstler Position bezogen. Er steht auf erhabener Stelle und präsentiert sich. Das opulente Kostüm verschafft ihm einige interessierte Blicke, stehengeblieben ist bis jetzt aber noch niemand. Vielleicht liegt es daran, dass die vorbeihastenden Menschen ihn zwar wahrnehmen, aber durch den Stress den sie sich selber auferlegen, nicht im Stande sind für ein paar wenige Minuten inne zu halten und sich durch eine Kleinigkeit ablenken zu lassen. So steht der verkleidete Mann auf seinem Hocker und bildet einen statischen Punkt in einer rasenden Welt.

Das Fiaker Gespann fährt langsam aus dem Bild, hinein in die enge Gasse. Legere sitzen zwei Frauen auf den weich gepolsterten Bänken der Pferdekutsche und sind wahrscheinlich schon gespannt was hinter der nächsten Häuserecke auf sie wartet. Holprig springt der Wagen über das Kopfsteinpflaster. Der Kutscher, mit starrem Blick nach vorne, weiß wohl bereits was als nächstes kommen wird. Stellt man sich vor es gäbe solch einen Kutscher im Leben eines jeden Menschen und der wüsste immer Bescheid was hinter der nächsten Biegung im Leben ist, … Mit einem Mal läuft mir ein kalter Schauer den Rücken hinab. Diese Vorstellung beunruhigt mich, denn gerade die Unplanbarkeit des Lebens und das Nichtwissen was als Nächstes kommt, machen für mich den Reiz aus. Wenn tatsächlich jemand existieren würde der vorher wüsste was passiert und dadurch eine Machtposition besäße, würde mich das sehr beunruhigen. Sich seiner Position bewusst kommt dem Kutscher ein leichtes Lächeln über die Lippen.

Am anderen Ende des Platzes herrscht Leere. Als ob alle dieses Areal meiden würden. Dominiert wird dieses kleine Stück von einem Haus. Vier vielleicht fünf Stockwerke hoch, mit glatter, grauer Fassade und kleinen Fenstern steht es da. Es sieht nicht einladend aus, was auch die Absenz von Menschen direkt davor erklären könnte. Die übrigen Fassaden stammen aus der Gründerzeit Wiens und sind dementsprechend verzierte Ungetüme. Sie wirken auf mich trotz ihrer Dimensionen und der Höhe komischerweise überhaupt nicht bedrohlich. Nur jene graue Häuserfassade scheint mich zu erdrücken. Immer wenn mein Blick diesen Bereich einfängt stockt mir der Atem, die Hände werden kalt und die Haare im Nacken stellen sich auf. Mir scheint meine Assoziationen mit ehemaligen KGB-Gebäuden der Sowjetunion erzeugen dieses Unwohlsein. Komisch, habe ich doch keine Erfahrungen diesbezüglich. Unser emotionales Einfühlungsvermögen kann manchmal im Vorhinein Gefühle erzeugen mit denen man so nicht rechnet. Nur das Wissen über historisch Geschehenes reicht, um beim Anblick eines speziellen Häusertyps Unwohlsein hervorzurufen.

Eine schwarze Gestalt hastet mit langen Schritten durch das Bild. In der Hand ein Tablett mit Heißgetränken. Sein Ziel ist unklar aber die Intention seiner Hast muss nicht erklärt werden. Der Gastgarten – warum man in diesem Zusammenhang Garten sagt, befindet sich der vermeintliche Garten doch auf dem Trottoir einer Großstadt, erschließt sich mir nicht – ist der einzige Platz an dem noch wenige Sonnenstrahlen den Weg zwischen den Häusern hindurch finden und bis zum Steinboden durchkommen. Die dunkle Jahreszeit nimmt überhand. Die Schatten werden länger, die Sonne steht immer tiefer. Bald wird ein kalter Wind auch noch die kälteresisdentesten Gäste aus den Gartenmöbeln der Caféhäuser blasen. Mit dem Verschwinden der Trottoirbemöbelung kommen auch schon die Maronibrater und verbreiten mit ihrem Röstaroma vorweihnachtliche Stimmung.

Still ist es um mich. Kein Laut dringt an mein Ohr. Nur ab und an knarrt eine alte Holzdiele. „Das an der Wand lehnen ist untersagt!“, unterbricht eine genervt wirkende Stimme die Stille. Aus ist es mit dem Abdriften in meine Gedankenwelt. Die Situation ist Geschichte, sie ist vergangen. Wie eine Maus am Rand einer Szene stand ich da. Unbemerkt von den Akteuren. Unbewusst wurde das Bild in der Galerie zu Leben erweckt. Mucksmäuschenstill hängt es an der Wand und erzählt jedem Betrachter eine andere Geschichte.

Der letzte Weg

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Mit schmerzverzerrtem Gesicht saß Sibille dienstagnachmittags beim Doktor. Seit sie ein kleines Kind gewesen war und die ersten Untersuchungen beim Zahnarzt über sich ergehen lassen musste, kam sie zu Herrn Grünsteidl, einem kompetenten Arzt, wie Sibille findet. Noch nie hatte er sie übers Ohr zu hauen versucht: Zumindest war sie ihm noch nie drauf gekommen. Diesmal schmerzte der Fünfer, der Backenzahn rechts oben. Er erzeugte einen stechenden Schmerz, der sich in Wellenbewegungen in ihrem Kopf breit machte. Immer wieder flammte das Stechen auf, um kurze Zeit später völlig abzuebben und wieder zu verschwinden. Seit einem Tag quälte er Sibille nun schon. An Schlafen war in der vergangenen Nacht nicht zu denken, ständig erwachte sie. Dementsprechend müde und unausgeschlafen ging sie heute Mittag auch aus dem Haus. Tief hingen die Augenringe und rot war das Auge. Sibille hatte, ihre unpässliche Situation noch verstärkend, eine starke Birkenallergie, die sie ständig niesen und ihre Nase laufen ließ. Heuer war eine starke Birkenblüte angesagt worden und auch eingetreten. Der milde Winter und die vielen zur gleichen Zeit blühenden Pflanzen, verstärkten den Effekt für sie als Allergikerin zusätzlich.

Im Warteraum Grünsteidls herrschte ein reges Kommen und Gehen. Die Tür war keine zwei Minuten geschlossen, flog sie auch schon wieder auf und ein neuer Patient betrat den ohnedies überfüllten Raum. „Wie demütigend doch so ein Wartezimmer ist.“, dachte Sibille und schämte sich für ihr Befinden. Verstohlenen Blickes musterte sie alle Wartenden und versuchte sich damit abzulenken, dass sie sich zu jedem der Anwesenden eine Geschichte einfallen ließ. Dies klappte auch ganz gut bis ihr Blick auf einen jungen Mann fiel: Er saß aufrecht auf einem ungemütlichen Sessel und las eine Fachzeitschrift. Sibille erkannte erst nicht um welche Art von Zeitschrift es sich handelte, redete sich aber schnell ein, dass er sicherlich eine Autozeitung in Händen hielt. Er war gut gekleidet und schien, im Gegensatz zu ihr, keine Schmerzen zu haben. Da sie diesem Herrn direkt gegenüber saß und sie ihn auch zu einem gewissen Grad sympathisch fand, verstärkte sich Sibilles Unwohlsein. Sie versuchte ihre laufende Nase und das Niesen so gut wie möglich zu unterdrücken und widmete dem Mann ihre volle Aufmerksamkeit. Trotzdem wollte ihr zu ihm keine passende Geschichte einfallen. Schließlich wandte sie ihren Blick von ihm ab und versuchte mit den weiteren Patienten ihr Spiel fortzusetzen. Jedoch kam sie mit ihren Blicken wieder und wieder auf jenen Herrn ihr gegenüber zurück und rätselte welche Geschichte sich wohl hinter ihm verbarg. Irgendwie fand sie, dass dieser Mann nicht in das Wartezimmer des Doktors passte: Schon sein Aufzug wirkte eher als ob er etwas verkaufen würde. Die anderen Menschen schienen ihn jedoch gar nicht wahrzunehmen und störten sich auch nicht an ihm. Schwarz war sein modisches Sakko. Ein weißes Stecktuch ragte keck aus der linken Brusttasche und verlieh dem sonst so dunklen Gewand einen hellen Klecks. Fast neckisch wirkte dieses kleine helle Tüchlein, als ob es mit seiner gar so anderen Farbgebung eine Auflockerung des düsteren Schwarz versuchte. Unter dem Sakko kam eine filigrane Silberkette zum Vorschein, die unter der Knopfreihe der Jacke verschwand und in einem Bogen über dem steingrauen Gilet hing, welches über das weiße Hemd geknöpft war. Auf einmal merkte Sibille, dass auch diese Art der Ablenkung ziemlich gut wirkte. Sie hatte sich so in den Details der Garderobe des Mannes verloren, dass ihr Schmerz für diese Zeit nicht präsent war. Immer noch las der Unbekannte konzentriert in der Zeitschrift. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas von Strenge und Verärgerung. Auf der Stirn des Mannes konnte man seine Anspannung regelrecht sehen. Es zeichneten sich tiefe Falten ab, die sich, blätterte er um, wie von unsichtbarer Hand glätteten. Fing er wieder zu lesen an, durchpflügten sie schon wieder seine Stirn.

„Frau Wagner! Zimmer drei ist für sie bereit!“, hörte sie dumpf die Stimme der Sprechstundenhilfe. Die Anlage krächzte als die Durchsage wiederholt wurde. Verdutzt stand sie abrupt auf, um zu erwähnter Tür mit der schwarzen Drei zu gehen. Als sie ins Zimmer trat, kamen die Schmerzen wieder zurück. Etwas verloren saß sie nun auf dem Behandlungsstuhl und dachte noch immer an jenen Mann im Wartezimmer. Er ließ ihr keine Ruhe. Erst Herr Grünsteidl ließ Sibille den Unbekannten vergessen. Er erkundigte sich nach Sibilles Problem und fing auch rasch mit der Behandlung an. Nach einer dreiviertel Stunde wurde Sibille vom Doktor entlassen. Vollgepumpt mit Schmerzmitteln, die ihr in Spritzenform injiziert worden waren, verließ sie den Behandlungsraum drei. Sofort fiel ihr der nun leere Sessel auf, auf dem vorhin noch der unbekannte Mann saß: Weg war er nun. Etwas traurig ging sie zum Schalter, holte sich ihr Rezept ab und verließ die Ordination.

Die Frühlingssonne stand schon flach über den Häusern und blendete ihre Augen. Fest kniff Sibille ihre Augen zusammen, um irgendetwas zu erahnen und sicheren Fußes zur Busstation zu gelangen. Sie musste auch nicht lange auf den Bus, der sie fast bis vor ihre Haustüre brachte, warten. Für den kurzen Weg zu ihrem Haus nahm sie, immer wenn sie Zeit hatte, einen kleinen Umweg in Kauf. Dieser führte sie durch einen kleinen Park, mit vielen Bäumen und Sträuchern. Verwinkelte Wege führten durch die Parkanlage und versteckte Sitzgruppen fanden sich überall zwischen den Pflanzen. Sibille liebte ihren Garten, wie sie den Park gern nannte, auch deswegen. Oftmals saß sie in einem der zahlreichen Winkel, las ungestört ein Buch oder genoss einfach die Sonne. Dieses Frühjahr war sie jedoch wegen ihrer Allergie nicht oft im Park gewesen, denn hier standen ihre blühenden Feinde. Heute aber, vielleicht wegen der Schmerzmittel Gründsteidls, konnte sie den Park etwas genießen.

Der Wind ging leicht und blies die warme Luft sanft durch Sibilles Garten. Einige Sorgen der letzten Tage und Wochen schienen wie weggeblasen. Sie schlenderte über einen Weg, von dem sie wusste, dass er sie in den letzten Winkel des Parks führte. Dort wollte sie ein paar Minuten verweilen und die Stille auf sich wirken lassen. Kein Mensch war an diesem Platz. Sibille steuerte eine Bank mit Tisch an und ließ sich auf die Sitzgelegenheit sinken. Ein Stöhnen der Entspannung ging mit dem Hinsetzen einher.

Als Sibille ihre Augen öffnete, zuckte sie zusammen. Schräg gegenüber saß, auf einer etwas versteckten Bank, jener Herr vom Wartezimmer. Diesmal las er nichts. Er schaute direkt in die Richtung in der Sibille saß. Ein Schauder überkam die junge Frau. Ihr Mund wurde trocken und ihre Hände zitterten, als er aufstand und auf sie zuging. „Hallo Frau Wagner.“, sagte der Unbekannte, als er bei ihr angekommen war. Seine Stimme war tief und angenehm. „Eine perfekte Stimme zum Vorlesen.“, dachte Sibille. Der Mann hatte schmale Lippen, die seine Zähne umrahmten und leicht geschwungen ein Lächeln andeuteten. Sein Gesicht war nun viel freundlicher als in der Ordination. Auch die Stirn schien sich entspannt zu haben, denn keine einzige Vertiefung war dort auszumachen. Erstmals blickte Sibille in die grauen Augen des Mannes und bemerkte, dass sie noch nicht einmal etwas erwidert hatte. Blitzschnell, wie diese Erkenntnis in ihr aufblitzte, schoss nun das Blut in ihre Wangen und ihr wurde heiß. Am liebsten wäre sie in diesem Augenblick davongelaufen. Wie ein verliebter Teenager hatte sie ihn mit offenem Mund angestarrt und nichts gesagt. Als sie wieder zu sich kam, hatte er bereits mit einem Lächeln Platz genommen. Sibille erwiderte seinen Gruß und fragte was er denn hier täte. „Ich komme des Öfteren hierher. Das ist ein guter Platz zum Entspannen und Philosophieren.“, erklärte der Fremde. „Dann haben wir ja was gemeinsam!“, freute sich Sibille. So saßen die beiden noch einige Zeit bis Sibilles Schmerzmittel ihre Wirkung verloren hatten und sie sich unwohl fühlte. Also beschlossen sie sich in den nächsten Tagen wiederzutreffen und gingen beide ihrer Wege.

Erst zuhause fiel es Sibille wie Schuppen von den Augen: Sie wusste nichts von dem Unbekannten. Er hatte sich zwar als Patrick vorgestellt, aber ansonsten hatten sich die Gespräche nur um sie gedreht. In den kommenden Tagen ließ Sibilles Zahnschmerz nach und sie fühlte sich sichtlich besser. Auch die schlimmste Zeit der Allergie schien vorüber zu sein. Sibille freute sich auf das Treffen mit Patrick. Ihre Gefühle konnte sie jedoch nicht richtig einordnen. Einerseits hatte sie ein beängstigendes Gefühl, da er so viel von ihr wusste und sie nichts von ihm. Andererseits freute sie sich auf das Wiedersehen und hatte regelrecht Schmetterlinge im Bauch, wenn sie an den gut gekleideten Patrick dachte. Sie wollte diese beängstigenden Gefühle aus der Welt schaffen und beim nächsten Treffen alles nachholen, was sie im ersten Gespräch verabsäumt glaubte. Doch aus ihrem Vorsatz wurde nichts. Es ging beim Rendezvous schließlich und endlich wieder vorrangig um sie, was sehr schmeichelnd war, aber das Gefühl der Angst vor dem Unbekannten nicht übertönen konnte. So ging es einige Wochen dahin. Die beiden trafen sich regelmäßig. Auch Sibilles Angst wurde mit einigen wenigen Details aus Patricks Leben ruhiggestellt. Er arbeitete als Berater einer internationalen Firma und war des Öfteren auf kurzen Reisen. Patrick hatte keine Familie mehr, nur der geliebte Großvater lebte noch. Diesen hatte er aber schon lang Zeit nicht mehr gesehen.

Nach einigen Wochen, in denen Sibille Bekanntschaft mit dem damals Unbekannten gemacht hatte, die Allergie und auch die Zahnschmerzen der Vergangenheit angehörten, war Sibille glücklich. Sie fühlte sich so beschwingt und federleicht. Patrick ließ sie schweben. Eines Tages trafen sich die Beiden zum Spazieren im Park. Jener Park, in dem sie sich kennenlernten. Sie schlurften Hand in Hand die Wege entlang, blieben ab und an stehen, um sich zu küssen oder herumzutollen. Alles war perfekt. Sie kamen an einem Rhododendronstrauch zum Stehen, worauf Patrick etwas zu herumdrucksen anfing. Er wollte ihr etwas sagen, konnte aber nicht. Seine Stirn verkrampfte sich, zeigte die angestrengten Falten. Der sonst so nette Gesichtsausdruck verschwand und wurde ernst. Die für Sibille so schönen grauen Augen, gaben eiskalte blitzende Blicke von sich. Sibille wurde nervös und wusste nicht was nun geschah. Ihre Hände fingen zu schwitzen an, waren aber eiskalt. Schauder liefen ihr über den Rücken und ebbten mit einem Frösteln ab. Sie fühlte sich unsicher. Was geschah hier? Hätte sie sich doch mehr über Patrick herausfinden sollen? War sie naiv? All diese Fragen machten sie verrückt.

Er stand vor ihr, baute sich in seiner vollen Größe auf und fing mit einer tiefen, grollenden Stimme zu sprechen an. Sibille fing an zu weinen. Sie wusste nicht warum, aber diese Veränderungen an Patrick und diese bedrohliche Stimmung brachten sie dazu. Immer wieder lief ihr eine Träne über die weiche Wange. Salz blieb auf ihrem Gesicht zurück. Wie auf ein Zeichen hin, verfinsterte sich der Himmel. Der Wind fing an stärker zu werden und die Vögel flüchteten in ihre Nester. Keine Menschenseele war mehr in der Nähe. Patricks Aussehen veränderte sich. Er wirkte immer dunkler und begann immer düsterer zu werden. Dann ließ er seine Maske fallen. „Die Reihe kommt nun an dich!“, sprach er, fasste ihr mit eiskalter Hand an die Schulter und führte Sibille in die Unterwelt.

Ein Gespenst geht um

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Wieder einmal geht ein Gespenst um in Europa. Nur diesmal ist es nicht der Kommunismus wie zu Ende des 19. Jahrhunderts. Dieses Gespenst hat Angst vor Kulturverlust, Veränderung, ist konservativ geprägt, wenn nicht rückwärtsgewandt. Wie ein Flächenbrand scheint es über alle Gesellschaften des alten Kontinents Verbreitung zu finden. Unaufhaltsam erscheint diese Entwicklung. Brennende Häuser, enorm viele Fahnen die eine nationalstaatliche Stärkung und ein Ablassen vom Miteinander fordern. Fahnen als Sinnbild für eine „neue“ Zeit. Eine Zeit die wir glücklicherweise in der Historie zurückgelassen haben. Mit gutem Grund hat sich in unserer Vergangenheit eine Mehrheit gefunden, die diesem Denken einen Riegel vorschob: Zerstörungswut hat Europa an den Abgrund getrieben und nur mit vereintem Willen und Bestreben eine neue Art des Zusammenlebens zu schaffen, mit einem Bewusstsein dafür, dass ein Miteinander der bessere Weg ist als die nationalstaatlichen Einzelwege, wurde dieses Projekt auch verwirklicht.

So ist das Entstehen von Bewegungen, die sich für einen Weg stark machen, der genau in diese Richtung, die vor Jahrzehnten bekämpft wurden geht, bedrohlich und nicht nachvollziehbar. Ja, es gibt eine Wirtschaftskrise. Ja, es gibt Verlierer in einer Gesellschaft. Ja, es gibt durch dieses Projekt in Europa manche Vorgehensweisen oder Strukturen, die nicht leicht zu verstehen sind. Aber sich als Reaktion auf solche Vorgänge in eine Welt des Terrors und der Isolation zu wünschen, in der der so oft herbeigewünschte „starke“ Mann agiert, finde ich doch seltsam.

Gehen wir zur Wurzel des Problems, wie ich meine: Der Angst. Der Duden beschreibt Angst als „undeutliches Gefühl des Bedrohtseins“. Somit handelt es sich um eine vage Empfindung, die sich bei jedem Individuum unterschiedlich ausdrückt. In Diskussionen werden immer wieder Ängste der „einfachen“ Menschen prolongiert, gleichzeitig wird unterstellt, dass die Eliten diese nicht verstünden. Somit wird ein Wir-Sie-Gefühl erzeugt, das große Gruppen der Gesellschaft anspricht. Hier geht es dezidiert um das Gefühl außen vor gelassen zu werden und sich nicht von „den Mächtigen“ repräsentiert zu sehen. Durch Ängste gepaart mit dem Wir-Sie-Gefühl können Gegenargumente leicht abgeschmettert werden, da die Floskel „Die da oben sind sowieso abgehoben und verstehen unsere Sorgen nicht!“ eben jenes Gefühl zu einer Gruppe zu gehören suggeriert und die „Mächtigen“ als planlos, in Bezug auf die Empfindungen der „einfachen“ Menschen darstellt. Zusätzlich wird jegliche Angst sofort auch auf „die Ausländer“ projiziert. Das ist nicht minder problematisch, denn durch diese leicht verfügbare Projektionsfläche müssen sich die „einfachen“ Menschen nicht mit ihren Ängsten auseinandersetzen, sonder können diese sofort auf „die Ausländer“ abwälzen.

Somit kommt eine weitere Frage auf: Die Frage nach der Partizipationsmöglichkeit an Bildung. Nie zuvor in der Geschichte der Moderne war das Angebot an Bildung so groß, so vielfältig und so gut zugänglich wie heute. Trotz allem ist der Zugang zu Bildung in der Gesellschaft immer noch an die sozioökonomische Voraussetzungen einer Person gebunden. Dennoch lässt sich diese Tatsache nicht 1:1  auf die vorherrschenden gesellschaftlichen Probleme umlegen, denn Teilnahme an Bildung setzt auch ein gewisses Maß an Willen des Individuums voraus.

War es in den 1970er Jahren noch das Bestreben der Sozialdemokraten in Europa, ihren WählerInnen jegliche Bildung zukommen zu lassen, um Wohlstand zu schaffen und Ungleichheit in der Gesellschaft zu verkleinern, so ist heute der Effekt verloren gegangen. Viele FunktionärInnen der Partei haben durch dieses Bestreben selbst den sozialen Aufstieg geschafft und wirken gerade aus diesem Grund auf die ehemaligen WählerInnen, die es nicht geschafft haben, als abgehoben – oder schlimmer – als Teil des Establishments, das sie verabscheuen. Es gibt somit keinen Bezugspunkt in der Sozialdemokratie mehr, keinen gemeinschaftlichen Raum, wo Identifikation mit der Politik und ihren Werten hergestellt werden könnte. Die ehemaligen großen Volksparteien haben sich im politischen Spektrum immer weiter einander angenähert und sind so nicht mehr ohne Weiteres voneinander abgrenzbar, was die Identifikation mit deren Politik immens erschwert. Die zurückgelassenen WählerInnen sind nun jener Pool aus dem sich populistische Bewegungen und Parteien bedienen – leider schaffen das Parteien aus dem rechten Spektrum am besten.

War es im 19. Jahrhundert eine Bewegung die mit konkreten Vorstellungen eine Gesellschaft formen wollte, haben wir es heute mit einer Gruppe zu tun, die sich selbst als Protest begreift. Als Protest gegen alles – ohne Vorstellungen wie denn eine andere Gesellschaft zu erreichen sei. Mit einer Ausnahme: Die Grenzen hoch und keine Zuwanderung mehr.

Wollen wir uns von solchen kurzsichtigen Menschen wirklich in diese Richtung treiben lassen? Ich für meinen Teil nicht. Ich werde mitnichten die weiße Parlamentärflagge zur Kapitulation schwenken und ein Projekt aufgeben, welches Frieden und Miteinander in den Vordergrund stellt. Anstatt der Kapitulationsflagge, plädiere ich für das Konzept der weißen Fahne nach der Matura, die gehisst wird, wenn alle SchülerInnen einer Klasse oder besser der gesamten Schule die Maturaprüfungen bestanden haben. Somit wird das große Gemeinsame in den Vordergrund gestellt und nicht das kleine Trennende.

König Fußball

07062016247[1]Der gesamte Körper ist gespannt. Hände zu Fäusten geballt, lassen an den Armen die seicht liegenden blauen Adern herausquellen. Der Bizeps, wie auch immer ausgeprägt, zeigt sein, bei Anstrengung, verändertes Aussehen. Leicht vorgebeugt richtet sich der Oberkörper gegen das zu Verfolgende. Ob alleine oder Kollektiv, plötzlich springen die wie Bögen gespannten Körper auf, reißen die Arme in die Luft, jubeln, raufen die Haare, liegen sich in den Armen. Euphorisch bis niedergeschlagen, soweit reicht die Palette der Gefühle. Erfreute Gesichter schreien ihre Empathie heraus, lachen, weinen, singen. Fassungslos und regungslos zeigen sich die Körper derer die auf der anderen Seite der Gefühlswelt stehen. 90 Minuten geht es so hin und her, 90 Minuten gibt es ein Wellental zwischen Hochgefühl und Niedergeschlagenheit. Wie eine Droge wirkt diese Achterbahn der Gefühle, wie Abhängige wirken auch jene die sich diesem Schauspiel hingeben. Es klingt naiv, ist es auch bis zu einem gewissen Punkt. Zielstrebig bedienen sie sich der Abhängigkeit, immer mehr wollen sie, immer weiter gehen sie. Ungreifbar für all jene, die sich nicht darauf einlassen können oder wollen. 22 erwachsene Menschen laufen über zwei Mal 45 Minuten einem Ball nach, versuchen ihn ins jeweils andere Tor zu bugsieren. An sich ist nicht mehr dahinter. Dieses „Spektakel“ begeistert Millionen von Menschen, mich eingeschlossen. Unverständlich. Vielleicht ist diese Faszination auch damit zu erklären, dass das Spiel am grünen verhätschelten Rasen, doch so sehr an die Realität erinnert. Ein auf Zeit begrenztes Spiel mit einem Ergebnis am Ende. Zwischendurch Höhen und Tiefen. Ist das nicht ein Gleichnis auf unser aller Leben und unser Verständnis was darin passieren soll? Liegt dahinter die Erkenntnis, warum solch eine Begeisterung für eine doch simple Sportart vorherrscht? Sicher bin ich mir nicht, plausibel kommt es mir aber allemal vor.

Wandel

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Seit Menschengedenken lief es immer nach demselben Schema ab. Er bekam den Auftrag, mit Adresse und dem Namen der Person und machte sich sofort auf den Weg. Keine Zeit verlierend, hastete er von A nach B, denn sobald die eine Order abgearbeitet war, wartete schon die nächste auf den gestressten Mann. Er der doch schon so viele Jahre in den Knochen hatte, musste ständig am Sprung sein und konnte aus seiner Rolle nicht ausbrechen. Die ersten Jahrhunderte war die Tätigkeit noch abwechslungsreich, aber die letzten Jahre wurde es immer langweiliger. Die Menschen mit denen er geschäftliche Verbindungen hatte, kannten keinen Respekt mehr. Immer wollten sie diskutieren und länger bleiben. Doch hatte er einmal die Weisung, so war nichts mehr rückgängig zu machen. Nur einmal hatte er sich auf ein fadenscheiniges Geschäft eingelassen – in Salzburg. Seither hatte er ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Stadt. Immer wenn er dort zu arbeiten hatte, musste er sich an dieses verlustige Geschäft erinnern.

Wieder war er unterwegs zu einem unaufschiebbaren Termin mit einem Klienten. Diesmal in der ehemaligen Habsburgerstadt Wien. Ach wie schön war die Zeit der Kaiser in dieser Stadt. Die Menschen fürchteten sich vor einem. Trat man an ihr ärmliches Lager und gab sich zu erkennen, wurde nicht versucht den Gevatter auf die Probe zu stellen und Zeit zu schinden. Nein, er kam, stellte sich vor, zerschnitt das dünne Band des Lebens und brachte den Menschen in den mythologischen Hades. So wurde es gemacht. Ach sehnte er sich nach dieser Zeit. Heute Hundert Jahre später hat sich die Metropole gewandelt, was nicht so tragisch wäre, aber mit der Metropole haben sich auch die Bewohner dieser Stadt geändert. Nicht nur die Menschen in Wien, alle haben sich verändert. Alle denken sie wüssten alles besser und könnten ihn, den der schon seit Jahrhunderten seinen Job machte, belehren oder bestechen.

Währinger Gürtel 18-20 stand auf dem zerknüllten Zettel. Ein gewisser Herr Kutschera musste abgeholt werden. Diese Adresse ist schon des Öfteren auf seinen Aufträgen aufgeschienen. Es ist halt auch ein Krankenhaus, hier sterben nun mal Menschen und so muss auch der Tod hier zu seinem Werke schreiten. Er mochte dieses Gebäude nicht sehr, das alte AKH, es liegt in Sichtweite, war ihm da schon lieber. Die Innenhöfe des weitläufigen Hospitals, erbaut unter Josef II, hatten immer einen gewissen Charme, überhaupt in den Stunden der Nacht. Vielleicht auch nur aus dem Grund, da er zu dieser Zeit, als dieses Krankenhaus eröffnet wurde, noch auf seinen dramatischen Auftritt und die darauf folgende, immer gleiche Reaktion, vertrauen konnte. Wenn jemand in den langen Gängen dieses Komplexes in seinen letzten Stunden sehnsüchtig in den grünen Innenhof blickte und er von hinten ganz leise den Namen rief, immer lauter werdend, bis sich die Person sicher war, dass das Rufen ihr galt und sich umdrehte. Wie erstarrt wirkten sie, fast wie steinerne Statuen aus den Höfen des heutigen alten AKH. Wie gerne er sich doch an diese längst vergangene Zeit erinnerte.

Aber auch der Gevatter Tod ist nicht allmächtig. So muss er sich mit den geänderten Verhältnissen arrangieren. Auch das neue Krankenhaus hat lange Gänge. Aber diese werden von gellendem Licht beherrscht und es gibt keine Fenster hin zu einem grünen Hof. Immer herrscht geschäftiges Treiben auf den Gängen, niemand kommt zur Ruhe. Obwohl man ihn nicht sehen konnte, war auch er von dieser stressigen Situation immer gefangen und hetzte von Tür zu Tür. 716, Zimmer 716 suchte er. Dort wartete Herr Kutschera. Als er endlich das gewünschte Zimmer gefunden hatte, zupfte er die Kapuze zu Recht, zog sie tief in die Stirn und schritt in den Raum. Herr K. war nicht alleine im Zimmer. Drei Zimmergenossen lagen in ihren Betten und tratschten miteinander. Auch K. war in die Unterhaltung involviert. Leise fing der Tod an zu rufen. Er rief den Namen: „Fritz Kutschera!“ „Fritz Kutschera!“. Dieser reagierte nicht. Der Gevatter wurde lauter, plötzlich zuckte K. zusammen, blickte um sich. Mit einem Mal erkannte er den Tod in der Tür stehen und wurde nervös. K. drückte wie wild auf einen Knopf der das Personal alarmieren sollte und blickte unentwegt ängstlich zur Tür. Die Zimmerkollegen erkannten die Angst im Gesicht des alten Mannes. Einer stand auf und humpelte zu K´s Bett um ihn zu beruhigen. Dieser ließ sich auch tatsächlich kurz Beruhigen und wirkte wieder entspannt. Also rief der Tod lauter und machte sich auf den kurzen Weg, hin zum Bett von K. Der dunkle Mantel schliff am Boden entlang. Das knochige Gesicht war nicht zu erkennen. An seinem Fußende blieb er stehen und war nun nicht mehr zu übersehen. Urplötzlich ging die Zimmertür auf und eine Krankenschwester und ein Arzt stürzten ins Zimmer. Sofort spritzten sie dem überforderten K. ein Mittelchen in den bereits gelegten Zugang, am Handgelenk. Er wurde ruhiger und ruhiger. Der Tod stand immer noch am Fußende des Bettes und beobachtete den Kampf den er, wie immer gewinnen würde. Mit einem Mal war es dann vorbei mit der Geduld des Schnitters. Er rief ein letztes Mal den Namen aus, die Krankenschwester und der Arzt erkannten die Lage, wurden vom Stress übermannt. Hektische Bewegungen die den armen Mann noch retten sollten, erfassten die Körper der beiden. Doch auch heute gab es kein Entkommen. Langsam glitt K. vom Leben in die Zwischenwelt und es war im Raum nur noch Stille zu vernehmen.

Kutschera war seit Langem wieder einmal einer, der so etwas wie Panik hatte als der Gevatter kam. Aber Genugtuung war es für den Tod trotzdem keine. Er hatte den Spaß an der Arbeit verloren, er fühlte sich in seiner Ehre verletzt, vermisste den Respekt der ihm, seiner Ansicht nach zustand. Er fühlte sich leer und unverstanden, er wollte einfach nur sterben, sich um nichts kümmern müssen.

Lilli

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Ţigmandru – meine Familie und ich nannten es Zuckmantel – liegt im nördlichen Teil Siebenbürgens, im heutigen Rumänien. Der Ort ist nicht groß und hat sich in den vergangenen 72 Jahren nahezu nicht verändert. Eine Straße führt zur einen Seite hinein und auf der anderen wieder hinaus. Kleine einfache Häuschen säumen diese Lebensader. Die Kirche des Ortes ist weithin das höchste und auch prunkvollste Gebäude der Ortschaft, bildet auch den Mittelpunkt des Dorfes. Kleine Pfade führen zwischen den Häusern auf die nahegelegenen Felder, die sich an die sanften Hügel des weitläufigen Tales schmiegen. Hier gibt es Weingärten aber auch Ackerland. Einfach bestellt werden diese Felder und Gärten. Es scheint fast so als ob hier in manchen Lebensbereichen die Zeit seit meiner Flucht stehengeblieben ist. Jenes Haus in dem ich aufgewachsen bin, mit seinem großen hölzernen Hoftor, steht zwar etwas vernachlässigt, aber nicht unbewohnt im Ort.  An genau jenem Platz wo meine Großeltern immer auf der Bank saßen und das tägliche Leben des Dorfes beobachteten, die Kinder auf der staubigen Straße spielten und die Fuhrwerke ihrer Wege fuhren, ist jetzt asphaltierte Straße, trotzdem fahren hier immer noch Menschen mit ihren Ochsenkarren und Pferdegespannen. Das Leben ist wie damals sehr einfach, die Bewohner arm, aber sie wirken glücklich. Sehr viele Parallelen zu meiner frühen Kindheit.

Ich war gerade einmal fünf Jahre alt, schon sollten dramatische Ereignisse mein Dasein in seinen Grundfesten verändern. Meine erste Erinnerung an diesen für mich so magischen Ort, spielt nahe des kleinen Bächleins, das unser Dorf durchfließt. Meine älteren Schwestern nahmen mich an der Hand mit zu ihrem Spielplatz auf das Feld der Eltern hinter besagtem Bach. Dort war gerade die Einbringung des Heus im Gange. Für mich so einprägsam, war nicht das Spiel mit meinen Geschwistern oder gar die harte Arbeit der Eltern, sondern der einzigartige Geruch. Der Geruch des trockenen Grases in der heißen Sommerluft. So viele Kräuter und Gräser ergaben diese einzigartige Komposition in meiner noch jungen Nase, die ich nie vergessen werde. Ich genoss meine Kindheit im Schoße meiner Familie, behütet von meinen Eltern und Großeltern. Diese wussten zu dieser Zeit jedoch schon, dass in Europa etwas im Gange war. Die Veränderungen beunruhigten sie, aber sie waren auch so weit weg von unserer Idylle, dass man seinen täglichen Geschäften nachging als ob nichts gewesen war. Die täglichen Routinen bestimmten das Dorf.

Immer wenn die Ernte kam, kam auch der Herbst. Meine Eltern waren mit dem Einbringen der Trauben aus dem kleinen Weingarten hinter unserem Hof beschäftigt. Auch die älteren Geschwister mussten mithelfen. So war auch ich an diesem Tag am Weinberg und spielte zwischen den Reben. Vater pendelte mit einem Pferdegespann zwischen Hof und Weingarten und brachte die geernteten Trauben zur Presse. Die stand im Hof unseres Hauses. Dicke Holzbalken und Metallverstrebungen hielten dieses Ungetüm zusammen. Faszinierend war für mich immer das Geräusch der Trauben, wenn der Pressvorgang im Laufen war. Ganz leise konnte man das Platzen der Trauben hören, etwas lauter knarrte das Holz der alten Presse. Schon zwei Generationen vor meinen Eltern wurde diese vom Urgroßvater meiner Mutter konstruiert. An diesem Tag war ich aber im Weinberg und spielte alleine zwischen den Beinen der Arbeitenden mit meiner Lieblingspuppe. Meine Mutter hatte sie mir geschenkt, nachdem sie sie selbst gebastelt hatte. Viele Stunden saß sie am Abend, nach getaner Arbeit bei Kerzenlicht am Holztisch in der Stube, nähte und klebte, bis Lilli, meine Puppe, fertig war. Lilli war von dem Tag an dem ich sie bekam, immer an meiner Seite. Ihre Wollhaare von gelber Farbe konnte man gut zu Zöpfen flechten. Diesen Tag hatte ich ihr einen einfachen Zopf geflochten, da wir das Haus schon sehr früh verließen, hatte ich für eine aufwendigere Frisur keine Zeit. Immer dann wenn die Erwachsenen mit Arbeiten beschäftigt waren, wurde eine spezielle Holzkonstruktion mit aufs Feld oder in den Weinberg genommen. Kreuzweise übereinander nagelte Vater vier Holzstangen und verband die beiden Kreuze mit einer etwas längeren Stange. Dazwischen wurde von meiner Mutter eine grob aus dünnen Hanfseilen geknüpfte,  Hängematte eingehängt. Hier konnte ich wenn ich müde war gemütlich ein Nickerchen machen und mich, während die anderen fleißig waren entspannen.

Dieser Tag war sonnig und heiß. Keine Wolken waren am Himmel. Alles war gut. Kurz nach Mittag, die Arbeit wurde gerade wieder aufgenommen, hörte man im Dorf laute Motorengeräusche. Jeder versuchte herauszufinden was da unten vor sich ging. Dann kam Papa vom Hof gefahren. Er hatte einen traurigen Gesichtsausdruck und als er vom Kutschbock abstieg lief ihm eine Träne über die Wange. Er erzählte was die Erwachsenen die letzten Wochen zu verdrängen versucht hatten. Der Krieg der in Europa wütete, kam nun auch in unsere Idylle. Alle Bewohner des Dorfes wurden von der Wehrmacht aufgefordert ihre Heimat für kurze Zeit zu verlassen. Nur so lange bis die russische Front wieder zurückgedrängt werden würde. Die Flucht musste sehr schnell von statten gehen, daher hatten wir bis am nächsten Morgen sechs Uhr Zeit unsere Habseligkeiten zu packen und uns auf den Weg, weg von der Front zu machen. Die Ernte wurde in den Hof gefahren, die Siebenbürgertrachten versteckten die Eltern in einem schnell ausgehobenen Erdloch im Garten. Ein Schwein wurde geschlachtet und mit auf den Weg genommen, die anderen Tiere entließ mein Vater in den Garten hinter dem Haus, dass sie nicht verhungerten. Immer wieder ertönte aus der Ferne Artilleriefeuer der nahenden Front und verbreitete Angst unter der Bevölkerung. Rasch wurden die Handgriffe ausgeführt.

Alle waren darauf eingestellt wieder zurückzukommen. Niemand konnte sich vorstellen den Ort den man seit seiner Kindheit kannte und als Heimat bezeichnete auf immer zu verlassen. Doch die beschwerliche Reise nahm kein Ende. Erst ging es in die nächste größere Stadt. Mit Fuhrwerken, Leiterwägen und auf den Schultern wurden Wertgegenstände weggeschafft. Bald rollten wir mit Güterzügen weit weg von unserem Dorf. Je länger die beschwerliche Flucht dauerte, desto mehr wurde uns bewusst, dass wir die Heimat für lange Zeit nicht mehr sehen werden.

72 Jahre lebe ich nun Tausend Kilometer weit weg von Zuckmantel in meiner neuen Heimat, begleitet von meiner Puppe Lilli, die immer noch auf meinem Nachtkästchen ihren Platz hat.

Allein und doch nicht einsam

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Die Nebeldecke öffnet sich und gibt den tief blauen Himmel mit dem wärmenden Sonnenball am Firmament frei. So rasch wie sie sich durch den Nebel kämpften  verschwinden sie sogleich, da der schmale Pfad nach der kleinen Lichtung wieder in den Wald eintaucht. Der durch das Unterholz bergan führende Weg verläuft durch einen Fichtenwald und verändert sich in einen engen Steig. Der Geruch den der  Forst in die Umgebung abgibt ist einmalig. Es ist ein Cuveé aus herabgefallenen Nadeln, Totholz, frischen Farnen und Gräsern, die die Feuchte eines vergangenen Regenschauers in der warmen Sommerluft aufsaugen. Ab und zu vernimmt man den Duft von blühenden Waldbeerensträuchern, die verführerisch riechen und zum Naschen animieren. So rasch das Aroma gekommen, so schnell lasse ich es auch wieder hinter mir und erreiche die nächste Kehre. Nun fällt mir wieder die Geräuschkulisse des Waldes auf, die vorher durch den Wohlgeruch vergessen wurde. Ein eifriger Specht hämmert mit seinem Schnabel in einen Baum um an Insekten zu kommen und verbreitet sein unnachahmliches Klopfgeräusch im Gehölz. Zu dem Pochen des Spechts mischt sich eine Vielzahl an Vögeln, die mit ihrem Zwitschern eine Art Melodie, zu dem taktangebenden Klopfen, beisteuern und somit ein natürliches Orchester bilden. Ab und an vernehme ich ein Rascheln oder ein Knacksen aus dem Dickicht und vermute ein Getier hinter den Sträuchern, welches den Eindringling beäugt. Für den Wanderer sind die Waldtiere zumeist unsichtbar, denn diese verstehen sich darin, zwar alles im Auge zu haben, aber für andere nicht zu sehen zu sein.

Der Waldboden verändert sich zusehends von einem eher steinigen Untergrund, hin zu einer weichen, grünen Oberfläche, auf der das Gehen sich so anfühlt, wie ich mir das Wandern auf Wolken vorstellen. Auch die Umgebung hat sich verwandelt. Nun, da ich den steilen Hang hinter mir gelassen habe, präsentiert sich eine Fläche, eine leicht ansteigende Wiese inmitten eines Bergwaldes vor mir, die, so scheint es, von Zeit zu Zeit auch von Gras fressenden Tierherden als Futterquelle genutzt wird. Hier findet sich eine Vielzahl an Kräutern und Blumen in allen Farben. Schmetterlinge fliegen durch die warme Luft und machen auf den schönsten rosaroten Kleeblüten Rast, um später weiter zur nächsten Blüte zu flattern. Bienen und laut brummende Hummeln komplettieren die Vielzahl an fliegenden Blumenanbetern und bestäuben unermüdlich eine Blüte nach der anderen.

Ich vernachlässige kurz die Geschehnisse der Gebirgswiese und lasse meinen Blick über die blühende Pracht schweifen. Am Rand der Wiese erhebt sich ein steinerner Torbogen. Links und rechts stehen  verfallene Mauern, die von Moosen und Farnen bedeckt sind und einen mystischen Eindruck hinterlassen. Das Tor ist von niedrigem Gesträuch umgeben und lässt die Vermutung offen, dass nicht allzu viele Besucher diese verlassene Behausung besuchen. Von einer unsichtbaren Hand gezogen, gehe ich in diese Richtung. Ich durchschreite den alt-ehrwürdigen Torbogen, durch den früher wohl viele Menschen ihren Weg fanden. Wie aus einem Märchenfilm wirkt die Szenerie in der verfallenen Burg. Bemooste Steine, Wehrgänge von Gräsern bewachsen und Farne wo man hinblickt. Hinter jeder Mauer, hinter jedem Stein vermutet man Kobolde oder andere Märchenfiguren. Immer wieder läuft mir ein Schauder über den Rücken – hier sind wohl wirklich unsichtbare Kräfte am Werk. Auf einmal tut sich vor mir eine unfassbare Aussicht auf. Steil fällt der Fels unter dem Gemäuer in die Tiefe. Einige Nebelschwaden ziehen noch durch den Wald unter meinen Füßen.

Am Fuße des Berges liegt eine Stadt. Eingebettet in eine atemberaubende Gebirgslandschaft. Immer wieder erhasche ich den Lärm der urbanen Umgebung. Autohupen, Zugrattern und Baustellenlärm, scheinen zwar weit weg, holen mich leider auch an diesem abgelegenen Ort ein und lassen mich nicht vergessen, dass ich bald wieder dort hinunter, mich dem Lärm und Treiben ausliefern muss.

Uuweräitsch

Es war 6 Uhr morgens als die geliebte Kirchturmglocke „Susanna“ zum letzten Male schlug. Der kühle Morgenwind umspielte die Menschen und begleitete sie bei ihren letzten Handgriffen. Sie packten ihr Hab und Gut auf Ochsenkarren, Leiterwägen oder trugen so viel sie nur konnten auf den eigenen Schultern. Kleine Kinder quengelten, da sie nicht verstanden was sich um sie herum ereignete. Doch auch die Erwachsenen wussten nicht wie ihnen geschah. Alle waren davon überzeugt zurückkommen zu können und hier ihr gewohntes Leben in vertrauter Umgebung, unter dem Schutze des alles überragenden Kirchturms zu verbringen. Jeder der sich diesem Tross anschließen musste, tat dies mit schmerzendem Herzen.

Langsam erhob sich die Sonne am Horizont und ließ die Morgenkühle verschwinden. Die Vögel zwitscherten ihr allmorgendliches Lied. Leise und beständig hörte man das Rauschen der nahen Mieresch. An heißen Sommertagen spielten die Kinder des Ortes unbeschwert an den Ufern des Flusses. An diesem Tag aber gab es kein Spiel am kühlenden Wasser.

Der 11. September 1944 sollte allen in Erinnerung bleiben. Auch einem kleinen Jungen von erst acht Jahren, der sich vor diesem Tag mit dem Vieh der Bauern auf den nahegelegenen hügeligen Weiden als Hirte verdiente. Stundenlang zog er mit seinem, kunstvoll geschnitzten, Stock und den Tieren durch die Landschaft Siebenbürgens. Am Rand des Waldes lag der Bub gerne, vor sich die Tiere auf den saftigen Wiesen weidend; unten das Dorf, welches er von hier oben gut überblicken konnte und hinter ihm der dunkle Wald mit den Brombeersträuchern, die den Jungen mit süßen Naschereien versorgten. Alles hatte er im Blick. Nichts konnte ihn in solchen Momenten überraschen. Und doch kam es zu jenem Tag im September 1944. Obwohl die Menschen schon vom Militär vorgewarnt wurden, traf sie Tatsache, dass sie ihren geliebten Flecken Erde nun wirklich verlassen mussten, tief im Herzen.

Acht Jahre früher wurde er als drittes Kind, einer am Fuße des Hügels lebenden Familie, geboren. Gut behütet wuchs er bis zum schicksalsträchtigen 11. September auf, an dem sich sein Leben für immer veränderte. Ohne zu wissen wohin sie die Viehwagons der Reichsbahn bringen würden, stiegen die Dorfbewohner ein und wurden von ihnen in eine ungewisse Zukunft getragen. Alle hofften darauf, wieder zurückkehren zu können – zurück in ihr vertrautes Leben. Der Aufbruch aber markierte den Beginn eines neuen Lebens, einer neue Zeitrechnung.

Erst zum Ende des Jahrtausends kam der Junge wieder an diesen Platz zurück. An einen Ort voller Erinnerungen. Auf der Hauptstraße stehend, erwachsen und zugleich wieder der Junge von einst, erinnerte er sich an den Tag vor langer Zeit und sein Leben davor. Die selbe staubige Straße wie früher führte durch den Ort. Die Kirche stand im Dorf wie in vergangenen Tagen und die neuen Bewohner der alten Häuser bewirtschafteten wie damals die kleinen Äcker hinter den Häusern. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Nur der Junge von damals hatte sich verändert und fuhr mit den Erinnerungen seiner ersten Lebensjahre, zurück in seine liebgewonnene neue Heimat.